Verrückt bleiben
Schlafbrille über die Augen und schlief zehn Minuten wie ein Stein. David Lynch sitzt tagsüber gern im Sessel und döst. Schopenhauer verglich das Schlafenmit dem Aufziehen einer Uhr, Macbeth nennt es den »Balsam kranker Seelen«. Manche schlafen im Linienbus, ihr Kopf fällt auf die Schulter des Nebenmanns, und ein kleiner Spuckefaden läuft aus dem Mund. Ich finde, man braucht eine gewisse Unverschämtheit, um vor anderen zu schlafen.
Vor zehn Jahren las ich Haruki Murakamis Erzählung »Schlaf«. Sie handelt von einer gelangweilten Ehefrau, die irgendwann aufhört, müde zu sein. Sie beginnt ein Doppelleben, nachts liest sie »Anna Karenina«, immer und immer wieder, sie trinkt Cognac und isst Schokolade (Genußmittel, die ihr Mann nicht billigt) und wickelt ihren Alltag als Zahnarzt-Frau und Mutter nur noch beiläufig ab. Sie nutzt die Zeit, die andere verschlafen, um ungestört sie selbst zu sein. Ihre Schlaflosigkeit liest sich wie ein intellektuelles Erwachen. Dieses Buch hinterließ einen starken Eindruck bei mir. Ich versuchte ebenfalls, das Schlafen einzustellen, allerdings mit der für Menschen üblichen Erschöpfung. Man schafft es, ein Buch in einer einzigen Nacht zu fressen, und es ist großartig, das gelesene Buch zuzuschlagen und selig in die Kissen zu sinken, wenn die Sonne aufgeht. Aber ab und zu schlafen sollte man schon.
Dabei gilt die Faustregel: Große Lebewesen mit niedrigem Puls brauchen weniger Schlaf als kleine mit hohem Puls. Elefanten zum Beispiel sind 20 Stunden am Tag wach und stehen in der Gegend herum. Walujew, der Boxer, vermutlich auch. Man wird angeblich herzkrank, wenn man zu wenig schläft. Schlaflose Laborratten leiden häufiger an Infektionen.
Es gibt einen schwarzweißen Stummfilm von Andy Warhol, er heißt »Sleep«. Der Film zeigt den Beat-Poeten John Giorno, wie er nackt im Bett liegt und schläft. Sechs Stunden lang. Es hat etwas Meditatives, aber auch etwas Frivoles, einem fremden Menschen beim Schlafen zuzuschauen, zumal, wenn er nackt ist. Ich schaue mir diesen Film manchmal an, wenn ich selber nachts nicht schlafen kann. John Giorno wird dann zum Stellvertreter meines Schlafes. Er ist mein persönlicherSchläfer. Er lebt noch, vielleicht sollte ich ihm das mal schreiben (siehe Kapitel »Der illusorische Brief der Woche«).
Als Jugendliche habe ich den Schlaf verachtet. Das war was für Babys, für Kranke, für Gelangweilte, für Langweilige, für Rentner, für Depressive. Lebenszeitvergeudung, Verpassung, Verdunklung. Ich hielt es immer mit Fassbinder, der sagte: »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin«, und der ja auch immer diese unbestimmte Angst hatte, zu sterben, wenn er einschliefe. Eine Angst, die sich zum Schluss erfüllte.
Na gut, für den plötzlichen Kindstod sind wir zu alt, für ein Sterben an Altersschwäche zu jung – es ist also relativ wahrscheinlich, dass man wieder aufwacht, und wenn nicht, dann hat sich diese Überlegung eh erledigt.
Was ich eigentlich sagen wollte: Heute freue ich mich auf den Schlaf, ich sehne ihn geradezu herbei, ich verlängere ihn, wo immer ich kann. Mit Hilfe der Schlummertaste stolpere ich morgens im Fünf-Minuten-Takt durch eine weitere Stunde. Was nämlich dem sterbenden Menschen nicht möglich ist, mit dem Tod zu verhandeln, ist dem schlafenden Menschen eine Wonne – mit dem Wecker zu verhandeln. Man muss ihn einfach ein bisschen früher stellen – und dann den Restschlaf portioniert genießen.
Wenn Sie jedem Tag das Maximum abtrotzen, wenn Sie mit allen Sinnen wach sind, dann werden Sie den Schlaf zu schätzen lernen. Aufs Einschlafen freut sich nur der, der weiß, dass er nichts verpasst, nicht beim Reisen, nicht beim Feiern, nicht beim Wachbleiben mit sonstigem Auftrag. Das Wissen, dass es Weniges gibt, das sich nicht wiederholt oder das nicht schon mal in irgendeiner Form passiert ist, schläfert ein.
Einzuschlafen ist nur für den schön, der loslassen kann. Sich auf einen Traum zuzubewegen ist wie ein Sprung in ein glucksendes Moor, in dem man auf Zeit versinkt, ein Moor, aus dem Blasen aufsteigen, Blasen, in denen Träume sind. »Wir sind aus solchem Stoff, wie Träume sind; und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt«, schreibt William Shakespeare.Das ist ein schönes Bild. Wir leben, umfangen von wabernden Schlafwolken. Sie schützen uns. Sie sind unsere Freunde. »Wir wollen jetzt nichts mehr sagen«, sagt Holly Golightly in »Frühstück bei Tiffany«, »einfach nur schlafen!«
Schlafen
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