Verrückt bleiben
Stunde später erkaltete vor mir ein sinnlos überteuertes Steak, und neben mir stand Woody Allen und spielte Klarinette. Das Foto von Tom Wolfe ist viel zu hell geworden, das Foto von Woody Allen viel zu dunkel. Man ahnt mehr, alsman sieht. Aber das sind Glücksmomente, zwei Stück an einem Tag, Momente für die Ewigkeit. Nach so einem Tag kann man eigentlich sterben, dachte ich damals, oder ihn immer wieder erleben und optimieren wie in »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Da erlebt Bill Murray immer wieder denselben Tag. Aber nicht jenen schönen Tag, als er bei Sonnenuntergang am Strand Hummer aß und Sex hatte, sondern einen kalten Tag in einer fiesen kleinen Stadt, an dem alles, aber auch alles schiefgeht.
Wäre der Tag, an dem ich Wolfe und Allen begegnete, mein ganz persönlicher Murmeltiertag? Kann man sich das aussuchen, herbeiimaginieren, kann man auf Glücksmomente zuleben? Einmal, im Flugzeug, saß ich neben einem Geschäftsmann aus Singapur. Er erzählte mir, dass er jeden Tag in einer neuen Stadt sei, in einer klimatisierten Limousine sitze und telefoniere. Einmal stand er im Stau in Indien, zwei kleine Kinder patschten in einer Pfütze herum. Der Vater nahm eins, warf es in die Luft, die Mutter lachte, die Kinder lachten, alle lachten, die klimatisierte Limousine fuhr weiter. Seitdem frage er sich, ob diese Menschen glücklicher seien als er. Waren sie es? Oder ist das nur Sozialkitsch?
Erkennen Sie den Glücksmoment, wenn er passiert. Schaffen Sie sich aktiv Glücksmomente. Erinnern Sie sich daran, rufen Sie sie immer wieder ab. In Orson Welles’ »Citizen Kane« sagt Mr. Bernstein, eine Nebenfigur: »Einmal, 1896, fuhr ich rüber nach Jersey mit der Fähre, und als wir rausfuhren, kam eine andere Fähre rein, auf der ein Mädchen stand und aufs Aussteigen wartete. Sie trug ein weißes Kleid, und sie hatte einen weißen Schirm. Ich sah sie nur für eine Sekunde. Sie sah mich gar nicht, aber ich wette, seitdem ist kein Monat vergangen, dass ich nicht an dieses Mädchen gedacht habe.« Auch ein flüchtiger Moment kann ein Glücksmoment sein. Man weiß nie genau, wann er kommt und ob er kommt und, falls er kommt, wie lang er bleiben wird, und falls er nicht kommt, ob er überhaupt jemals kommt. Man kann ihn nicht herbeiplanen,man kann ihn nicht verlängern – und man kann ihn schon gar nicht wiederholen. Oder zurückholen. Oder konservieren. In Hitchcocks »Rebecca« sagt Joan Fontaine zu Maxim de Winter: »Ich wollte, man könnte eine besonders schöne Erinnerung wie ein Parfüm in einer Flasche aufbewahren, dass sie ihren Duft nie verliert. Und wenn man die Flasche öffnet, dann ist einem so, als ob alles wieder lebendig wäre.« Geht das vielleicht doch? Mit Fotos, mit Videos, mit Notizen, mit Bildern, die sich in die Netzhaut brennen?
Machen Sie eine Liste mit Glücksmomenten für unglückliche Zeiten (siehe Kapitel »Think small«). Füllen Sie einen kleinen Koffer mit Souvenirs, mit Symbolen, Briefen, Fotos, getrockneten Pflanzen, Steinen, Scherben, sonst was. Wenn Sie ihn öffnen, dann leuchtet es heraus, genau wie bei dem Koffer in »Pulp Fiction« – erinnern Sie sich? Der Killer öffnet den Koffer, ein Lichtschein fällt heraus und leuchtet auf sein Gesicht. Aber wir können nicht sehen, was drin ist. Nur er kann es sehen. Wenn Ihre Wohnung mal brennt, pfeifen Sie auf Ihre Sozialversicherungsunterlagen, Ihr Silberbesteck und Ihr Zertifikat von der Fern-Uni Hagen – nehmen Sie Ihren Glückskoffer mit.
Wer jung ist, erkennt den Moment, wenn er passiert, oft nicht. Er wird vielleicht später sagen: gestern oder letzte Woche oder voriges Jahr oder damals, ja, das war ein Glücksmoment. Je älter wir sind, desto unmittelbarer spüren wir, wenn Glücksmomente passieren, und desto bewusster erleben wir sie, und es kommt der Punkt, an dem wir denken oder sogar laut sagen: »Das ist der Moment, den ich früher noch nicht zu würdigen gewusst, ja, nicht mal erkannt hätte. Jetzt, in dieser Sekunde passiert etwas, das ich niemals vergessen werde, so oder so, das mich prägen wird und das mir, wenn ich es registriere und konserviere, vor Augen stehen wird in der Sekunde meines Todes.«
Das kann der Moment sein, in dem man den verhassten Job hinschmeißt – oder den begehrten Job ergattert. Oder der Moment, in dem man sich nackt in den Schnee wirft. Oder derMoment, in dem man sich verliebt, mit einem Fallschirm abspringt, die erste eigene Wohnung bezieht, zum ersten Mal wählen geht, sein
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