Verrückt bleiben
so weit ist. Und wenn es nicht zum Äußersten kommt, umso besser! Und falls – im Radio hörte ich einmal von einem blinden Dachdecker, der im Unterschied zu seinen sehenden Kollegen fähig war, nachts im Stockdunklen zu arbeiten.
Meiner Augenkrankheit und den intensiven Erfahrungen, die ich mit Patienten und Ärzten machte, verdanke ich meinen zweiten Roman »Masserberg«, der 2001 erschien und 2010 fürs Fernsehen verfilmt wurde. Aus dem Hinweis eines Arztes, dass ich mit dieser Augenkrankheit nie im Scheinwerferlicht würde stehen können, ist mein Wunsch entstanden, Fernsehmoderatorin zu werden. »Das wollen wir erst mal sehen«, habe ich damals gedacht. Ich habe mir diesen Wunsch erfüllt, und zwar aus blankem Trotz.
12. GLÜCKSMOMENTE
»Es ist gut. Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Der das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort im selben Augenblick.«
Fjodor Dostojewski
Alle suchen das Glück, aber wo ist es denn? Glück ist im Schöpfungsplan nicht vorgesehen, sagt Freud. Vermutlich hat er recht. Der Zustand dauerhaften Glücks ist Quatsch mit Soße. Selbst wenn es »da« ist, wird es nicht als Zustand dauerhaften Glücks empfunden. Das Plateau kann noch so hoch sein – wenn man sich daran gewöhnt hat, fühlt es sich flach an. Was folgt, ist Jammern auf hohem Niveau. Aber es gibt Glücksmomente, die für immer bleiben. Ich bin eine eifrige Sammlerin von Glücksmomenten. Manche bewahre ich ganz für mich auf. Von anderen kann ich erzählen.
Im Sommer 2001, ich war gerade nach New York gezogen, rief mich ein Kollege aus Deutschland an. Er sei demnächst in der Stadt und plane, ins Hotel »Carlyle« zu gehen, wo jeden Montagabend Woody Allen Klarinette spiele. Ob ich ihn begleiten wolle. Ich geriet in große Aufregung. Natürlich wollte ich ihn begleiten. Allen war einer meiner Filmgötter. Seinen »Stadtneurotiker« hatte ich mehrere Dutzend Mal gesehen, er hatte jahrelang gegen seinen Film »Manhattan« um einen Platz auf meinem Top-Ten-Film-Olymp gekämpft, bis er dann überraschend von Allens »Harry außer sich« – einem Film über einen Schriftsteller mit Schreibblockade, der beginnt, die Figuren mit ihren Vorlagen zu verwechseln, abgelöst worden war. Ich war selig.
Nachmittags ließ ich mir bei Kinko’s, einer Copyshop-Kette, Visitenkarten »to go« anfertigen: Else Buschheuer, Novellist. Man wusste ja nie. Ich las zu der Zeit gerade Tom Wolfes »Fegefeuer der Eitelkeiten« auf Englisch und kam, obwohl ich es mehrfach auf Deutsch gelesen hatte, nur mühsam voran.Im Buch stirbt ein alter Mann bei einem Essen in einem Restaurant, diese Szene hatte mich dazu inspiriert, in meinem Roman »Masserberg«, der im Frühjahr 2001 erschienen war, einen alten Augenarzt während einer Untersuchung sterben zu lassen. Ich hatte auch Brian de Palmas Verfilmung von »Fegefeuer der Eitelkeiten« mit Tom Hanks, Bruce Willis und Melanie Griffith mehrfach gesehen und kongenial gefunden, hatte mich aber gefragt, was wohl der Autor selbst dazu sagte, denn viele minutiöse und von Recherchestolz erfüllte Details aus dem Wallstreetgeschäft und der New Yorker Justizszene, die mich im Buch angeödet hatten, waren weggelassen worden. »Masserberg«, mein zweiter Roman, war gerade erschienen, aber es sollte noch neun Jahre dauern, bis er verfilmt würde. In der Verfilmung würde man den Tod des alten Augenarztes, der von Wolfes Buch inspiriert war, einfach weglassen. Aber das alles wusste ich damals noch nicht.
Als ich aus der U-Bahn stieg, sah ich einen großen, sehr aufrecht schreitenden distinguierten Herrn mit Pelerine und Melone. Er führte einen kleinen wolligen Hund spazieren und betrachtete die hellerleuchteten Schaufenster der Madison Avenue. Ich war wie vom Donner gerührt: »Sind Sie etwa Tom Wolfe?«, rief ich. Der Herr wandte sich mir zu, lüpfte mit behandschuhter Hand den Hut und erwiderte: »In der Tat, ich bin es.« Ich stammelte, auf Englisch: Das sei ja nicht zu fassen, ich läse gerade sein Buch, und ich sei im Moment auf dem Weg zu Woody Allen, was für ein Tag, im Übrigen schriebe ich ebenfalls Bücher. Wolfe nickte höflich-amüsiert und sagte: »Really!« Er ließ sich sogar von mir fotografieren. Schließlich drückte ich dem verdutzten Mann meine druckfrische Kinko-Visitenkarte in die Hand, und er schaute ratlos auf »Else Buschheuer, Novellist«. Falsch geschrieben, mit zwei »l«. Bereits eine
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