Verrückt bleiben
zu schmatzen und zu rülpsen. Warum eigentlich nicht? Wegen Knigge & Co.? Weil wir keinen Hunger mehr haben? Weil wir Schoßtiere der Genussmittelindustrie geworden sind – unter Damasttischdecke, Lätzchen, Messerbänkchen machen wir’s gar nicht mehr. Man soll ja regelmäßig essen. Aber wer regelmäßig isst, bringt sich um das intensive Gefühl großen Hungers.
Hungrig werden. In die Hand nehmen, abbeißen, Finger ablecken– dafür sind wir viel zu gut erzogen worden. In Häppchen Verpacktes verspeisen wir mit Stäbchen, Löffeln, Spießen, mit Steakmesser und Käsemesser und Fischmesser und Kuchengabel. Die Nahrung wird vorher geschält, entkernt, entbeint, gefriergetrocknet, pasteurisiert und aromatisiert. Dann sperren wir, ganz geziert, unsere dünkelhaften Mäulchen auf, spreizen den kleinen Finger ab und waschen uns die Hände, und zwar davor, zwischen den Gängen und danach.
Als 1955 im Museum of Modern Art in New York Satyajit Rays Film »Pather Panchali« uraufgeführt wurde, verließen zwei Damen empört das Kino. Stein des Anstoßes war folgende Szene: Eine alte Inderin sitzt vor ihrer Hütte, steckt die Hand in eine Schale mit breiigem Reis, stopft dann alle beschmodderten Finger auf einmal in den Mund und leckt die Hand genüsslich ab. Ihr eingefallenes, zahnloses Gesicht, ihre knochige, schmutzige Pfote, ihr abgewirtschafteter greiser Körper, ihr nicht mehr ganz weißer schlabbernder Witwensari, ihr Grunzen, Mampfen und Sabbern müssen bei den beiden New Yorkerinnen etwas ausgelöst haben, das man hierzulande »Kulturschock« nennt. Es erinnerte mich an den Film »Am Anfang war das Feuer« von Jean-Jacques Annaud, in dem eine Horde Neandertaler Abenteuer mit Säbelzahntigern, Affenmenschen und Mammuts erlebt. Im ganzen Film gibt es nur Grunzlaute, und zwischendurch wird hemmungslos gefressen. Das war noch vor Knigge.
Ich entschloss mich zum Selbstversuch, eine Art Hommage an den Regisseur Satyajit Ray. Ich legte also im Restaurant das in eine Serviette eingerollte Besteck beiseite, zögerte kurz und schaufelte dann die Paella mit der nackten Hand in mich hinein. Ich fühlte die klebrige Hitze des Essens, die weiche Wärme meiner Mundhöhle, den Pelz meiner Zunge, die sich wie ein nasser Höhlenwächter in den Weg stellte, die glatten, ledrigen, nach aromatisierter Handseife schmeckenden Kuppen meiner Finger. Alles schleckte ich auf, wischte mit der Handfläche den Teller ab und leckte dann erst dieHandfläche sauber, dann den Teller ab, während sich livrierte Kellner hinter mir unruhig gruppierten. Das Fressen hat Spaß gemacht. Es war lebensbejahend, anarchisch, archaisch. Versuchen Sie mal das Fressen ohne Besteck, heute Abend, beim Italiener um die Ecke. Und vergessen Sie das Schmatzen nicht! Guten Appetit!
10. Schlafen
(Dieses Kapitel wurde im Liegen geschrieben, kann aber im Sitzen gelesen werden.)
»Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie.«
Otto von Bismarck
Mein Hirn arbeitet nicht vor 12 Uhr mittags. Ich habe lange gebraucht, um das zu akzeptieren. Das heißt nicht, dass ich vormittags nicht leichte, anspruchslose Arbeiten verrichten könnte. Aber lieber schlafe ich aus. Immer wieder im Leben habe ich Nachtigall versucht, eine Lerche zu sein, ob als Jugendliche, die den Ferienjob ausgerechnet beim Bäcker absolvierte, oder als fest angestellte Spiegel-TV-Reporterin oder als Mittdreißigerin in meinen Tempeljahren, in denen ich morgens um 4 aufstand, ich hab gegen meinen Biorhythmus gearbeitet, willentlich und wissentlich, um ihn zu überlisten. »Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen«, hat Lichtenberg gesagt. Aber der Sonnenuntergang ist auch schön.
Der Schlaf ist ein strenger Meister. Man kann ihn nicht ohne Einbußen überlisten. Ich habe alle Jetlag-Tricksereien ausprobiert, habe nach Jahrzehnten alle Mittagsschlaf-Teststrecken als erfolglos eingestellt, versage auf Langstreckenflügen in 98 von 100 Fällen – und der viel gepriesene heilsame Schlaf vor Mitternacht wird mir wohl niemals zuteil werden.
Dabei bin ich eine große Befürworterin des richtigen Schlafens. Es ist ganz einfach. Jeder braucht eine andere Art von Schlaf. Churchill blieb oft halbe Tage im Bett. Napoleon war für Kurzschlaf berühmt, aus dem ihn nicht mal Kanonendonner wecken konnte. Als ich einmal mit Ephraim Kishon im Taxi fuhr, sagte er: »Sie entschuldigen, Süßele«, stopfte sich Stöpsel in die Ohren, zog eine
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