Verrückt bleiben
Nacht, ein Buckel, mitdem wir uns angesteckt haben. Was wird dann aus uns? Werden wir in einen Käfig gesteckt, zeigen alle mit dem Finger auf uns? Oder können wir, wie man immer so schön sagt, aus der Not eine Tugend machen? Beethoven soll hässlich gewesen sein, Gogol soll hässlich gewesen sein. Woody Allen, Peter Sloterdijk, Karl Dall sind auch nicht die Schönsten. Und, hat es ihnen geschadet?
Wäre es nach Darwins »Survival of the Fittest« gegangen, dann hätten hässliche Menschen aussterben müssen. Aber die Crux ist, es wachsen immer neue nach. Die Moden ändern sich. Was heute als hässlich gilt, kann morgen charismatisch sein, der Heroin-Look bei Models, die dicken Frauen aus der Dove-Werbung. Überhaupt, das ist eine These von Oscar Wilde, zerstört Intelligenz das Gesicht. Den Gegenbeweis tritt der bildhübsche französische Philosoph Raphaël Enthoven an, der auf Arte moderiert – übrigens der Exfreund der Präsidentengattin Carla Bruni, sie schrieb für ihn den Song »Raphaël«. Nimmt man einem Schönling Klugheit ab? Würde man ihn nicht eigentlich gern an die Wand werfen, damit er ein Frosch wird?
In Ingeborg Bachmanns Geschichte »Ihr glücklichen Augen« kriegt die kurzsichtige Miranda die erste Brille ihres Lebens. Sie setzt sie auf, sieht jede Pore auf der Nase ihres Freundes, sieht, wie er sich mit den Fingern einen Speiserest entfernt. Sie nimmt die Brille ab und zerbricht sie. Sie flüchtet sich in ihre Kurzsichtigkeit. Es ist nichts für zarte Gemüter, alles immer ganz und gar scharf zu sehen, sich selbst und andere, überdeutlich, bis in Dimensionen des Cartoonisten Gerhard Haderer verzerrt. Es gibt zwei Möglichkeiten, der Hässlichkeit zu begegnen: Schön tun wie Klaus Manns »Mephisto«-Romanheld Hendrik Höfgen, der seine kurzen, stumpfen Hände stets so hält, »als ob sie spitz und gotisch seien« – oder sich zu seiner Hässlichkeit bekennen. Ich empfehle Letzteres. Ich empfehle Miranda, die Brille zu tragen. Augen auf und durch!
War Lotte Lenya schön? Und Edith Piaf? Ist es CamillaParker Bowles? Catherine Ashton? Und hat Nofretetes blindes Auge nicht sogar ihren Mythos begründet?
Oder Dicksein. Cicero war dick. Churchill war dick. Luther war dick. Hitchcock war dick. Balzac war dick, Beth Ditto ist dick. So geht sie, die Flucht nach vorn. Sie kreiert ein originäres Selbstbewusstsein! Dann sind Sie eben die Dicke. Oder die mit der Nase. Theo ist mit Vicky Leandros nach Lodz gefahren, trotz ihrer Nase. Thomas Gottschalk und Mike Krüger sind »Die Supernasen«. Denken Sie an die Almodóvar-, an die Fellini-Gesichter: magisch und unvergesslich.
Was ist Ihr Alleinstellungsmerkmal? Gibt es irgendwas, das Sie optisch von anderen unterscheidbar macht? Halten Sie unbedingt an diesem Makel fest. Bekämpfen Sie ihn nicht, lassen Sie ihn nicht absägen. Schließen Sie Freundschaft mit ihm, betonen Sie ihn, umarmen Sie ihn. Konzentrieren Sie sich nicht auf die Beseitigung der subjektiv gefühlten Schwächen, bauen Sie die Schwächen als Stärken auf.
Lechzen Sie nicht nach Dutzendware. Werden Sie nicht unscharf und beliebig, trachten Sie nicht danach, in die Gefälligkeitsnorm einzutauchen. Kaufen Sie sich keine Mang-Nase. Wer sich zu sehr glattbügeln lässt, seine Meinung, seine Haltung, sein Gesicht, der wird beliebig. Wir sind ein freies Land, jeder kann sich liften lassen, sooft er will, aber wem ist geholfen, wenn Frauen über 60 alle aussehen wie Elke Sommer? Man verliert sich selbst. Es gibt eine Geschichte vom späten Elvis Presley, die dafür bezeichnend ist: Er kam an einer Kneipe vorbei, dort lief ein Elvis-Lookalike-Wettbewerb. Aus Jux machte er mit – und belegte den dritten Platz.
Woody Allen erzählt in seinem Film »Harry außer sich« (den übrigens jeder Schriftsteller gesehen haben sollte) die Geschichte von einem Schauspieler, der plötzlich unscharf wird, und zwar mitten in den Dreharbeiten für einen Spielfilm, in dem er die Hauptrolle spielt. Der Regisseur bricht den Dreh ab. Der Schauspieler geht nach Hause, seine Kinder springen herum und rufen: »Papa ist ganz unscharf, Papa ist ganz unscharf!«Die ganze Familie landet schließlich beim Augenarzt. Der verschreibt der Ehefrau und den Kindern Brillen mit Einweckgläsern – und die Welt ist wieder in Ordnung. Der Unscharfe ist zwar immer noch unscharf, aber die anderen haben sich darauf eingestellt.
Was eine hübsche Idee ist: Nicht der Ver-rückte wird geheilt, sondern die restliche Welt. In einem
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