Verrückt bleiben
sind?«
Lynch: »Schon seit Jahren schickt mir die Band ihre CDs. Ich habe sie nie angehört. Aber dann habe ich zufällig ihr letztes Album aufgelegt – und es war genau das, was ich für ›Lost Highway‹ brauchte. Das ganze Team war verrückt danach: Rammstein musste 70 CDs losschicken – eine für jeden in der Filmcrew.«
Die schönsten Geschichten sind erdacht, aber diese ist wahr. Sie befruchtet und befeuert mich jeden Tag, seit ich sie gehört habe. Es war angeblich wirklich so. Die Band sitzt zusammen und überlegt, wohin man Tapes schicken könne. Wer soll unsere Musik hören? Wem auf der Welt könnte unsere Musik gefallen? Warum nicht an Hollywood-Regisseure? Welche Hollywood-Regisseure beten wir an? Sie besorgen sich Adressen von amerikanischen Produktionsfirmen. Sie adressieren Kuverts, lecken Briefmarken an, schicken ihre Platten nach Übersee, immer wieder, jede Platte. Tatsächlich, einige Jahre später steigt David Lynch ins Auto, findet ein wattiertes Kuvert aus Deutschland, reißt es auf und legt die CD in seinen Player. Der Rest ist Geschichte.
Else Lasker-Schüler hat immer allen geschrieben: Verlegern, Intendanten, Redakteuren, anderen Dichtern. Es waren viele illusorische Briefe dabei, aber manche haben ihren Weg gefunden. Schreiben Sie einmal in der Woche einen illusorischen Brief, an einen Künstler, einen Kollegen, einen Politiker, einen Buchautor, an jeden, dem Sie etwas zu sagen hätten, und sei er noch so fern. Das Internet hilft bei der Adressierung: Verlage, Agenturen, Staatskanzleien, Musikfirmen. Der Brief wird seinen Empfänger finden. Irgendein Vorzimmermensch, ein Praktikant, eine Pressefrau wird ihn lesen. Es war eine Sekretärin, die das erste Manuskript von Joanne K. Rowling, der Harry-Potter-Erfinderin, mit nach Hause nahm und las.
Schreiben Sie einen illusorischen Brief. Verschlimmbessern Sie ihn nicht hundertmal, bevor Sie ihn abschicken, schreiben Sie aus dem Schwung Ihrer Emotionen heraus, in einemkühnen Handstreich. Adressieren und frankieren Sie ihn sofort, bringen Sie ihn umgehend zum Briefkasten, er muss hinaus. Vielleicht löst er etwas aus. Vielleicht werden Sie nie erfahren, dass er etwas ausgelöst hat. Vielleicht klingelt morgen das Telefon. Und selbst wenn nicht, dann war der Aufwand denkbar klein.
Verschieben Sie die Sache nicht, machen Sie sie JETZT. Legen Sie dieses Buch für einen Moment zur Seite und schreiben Sie Ihren ersten illusorischen Brief. Man soll ja im Moment Leben. Das Problem dabei ist, dass der Mensch dazu neigt, zu denken, jetzt muss ich erst mal noch das bewältigen und dies erledigen und das auskurieren und jenes abwarten, und dann, jaha dann … geht das Leben so richtig los.
Der Alltag suppt alles weg. Der Erledigungsplan steht immer zwischen uns und der großen Tat. Sobald wir den Hausmeister angerufen haben, um ihm zu sagen, dass die Wohnungstür klemmt, sobald die Steuererklärung fertig ist, sobald wir die Wäsche aufgehängt, die Computer-Kundenhotline angerufen, Sport gemacht, den Plan also erfüllt, das Tagwerk also vollbracht haben, dann geht unser Leben richtig los.
Von dieser Schimäre gepeitscht, irrlichtern wir durch die Welt. Natürlich geht unser Leben nie richtig los, weil immer wieder irgendwas dazwischenkommt. So kommt’s uns jedenfalls vor. In Wirklichkeit geht das Leben nur scheinbar nicht richtig los, weil es schon mittendrin ist. Es kommt also nichts »dazwischen«, sondern das »Dazwischen« ist der eigentliche Zustand, der Zustand, den Ratgeber meinen mit »im Moment leben« und »der Weg ist das Ziel«. Die großen Wahrheiten sind banal.
Der Alptraum, der kaputte Kühlschrank, der Zahnschmerz, der weggeflogene Hut, der Kampf gegen den inneren Schweinehund, der Liebeskummer, der Lustkauf, der Aktionismus, der umgekippte Rotwein, die Selbstbestätigung durch ein Lob, die Selbstdemontage durch einen Misserfolg, der ganze Kampf gegen innere und äußere Gewalten, das IST schon dasLeben. Besser wird’s nicht. Das ist das Leben, das verflixte kleine Menschenleben mit all seinen unverhofften Hürden, Bürden, Leerläufen, geistigen Amokläufen und kleinen funkelnden Momenten des Glücks.
Wem wollten Sie schon immer mal schreiben? Der Bundeskanzlerin? Dem Papst? Dem Dalai Lama? Barack Obama? Ihrem Vater? Der Handwerkskammer? Der Frau, in die Sie heimlich verliebt sind? Kommt Ihnen das zu groß vor, zu gewichtig, um es gleich zu tun? Glauben Sie, Sie haben nicht den Atem dafür? Warten Sie auf einen
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