Verrückt bleiben
Körper wie in einem Auto. Irgendwann geht das Auto kaputt, und ich steige in ein neues Auto. Reinkarnation. Was aber, wenn da kein neues Auto ist? Was, wenn wir wirklich nur dieses eine Leben haben? Ist nicht das Bewusstmachen dieser – wie ich finde, ziemlich wahrscheinlichen – Möglichkeit eine Chance? Dem einen Leben folgt der eine Tod.
Laut Gesetz ist ein toter Mensch kein Mensch mehr, sondern eine Sache. Wie wird mit der Sache verfahren? Wer ist zuständig? Was sind die Schritte?
Auch eine Hospitation beim Bestatter gehörte zu meinem Hospizhelfer-Kurs. Der Bestatter führte in meinem Beisein mit Hinterbliebenen Gespräche, in denen die Modalitäten der Beisetzung geregelt wurden. Am interessantesten waren hier die Preise. Eine Beerdigung ist ein teures Unterfangen, selbst für eine Kremierung muss ein Sarg gekauft werden, der mit verbrannt wird, und auch das Glockenläuten kostet extra. Die Familie der Toten, die sich oft, wenn auch schüchtern, nach günstigen Bestattungsmethoden erkundigte, endete meist nach der »Beratung« des Bestatters bei mehreren Tausend Euro. Der Zustand der relativ frischen Trauer, Verwitwung oder Verwaisung, macht die Menschen unsicher und aus der Unsicherheit heraus spendabel. Niemand will als Knauser dastehen, wenn es um die eigene Mutter geht. Keiner der Toten hatte vorgesorgt. Nach mir die Sintflut.
Der Sterbende, den ich auf der Palliativstation begleitet hatte, hatte mich gelehrt, wie störrisch tote Menschen sein können, denen man, um sie für die Nachwelt bekömmlicher zu machen, die Augen, den Mund schließt. In Filmen sah das immer so einfach aus, ein Wischen von oben nach unten, und die Lider sind geschlossen. Der Unterkiefer, der im Sterben herunterfällt, wird im wirklichen Leben oft am Kopf festgebunden,bis die Leichenstarre eintritt. Aber das sieht grässlich aus, wie ein Zahnschmerzpatient. Ich hielt den Kiefer des Toten, eine halbe Stunde lang hielt ich ihn, und als seine Familie eintrat, sah der Mann friedlich aus. Die Mühe war nicht mehr zu sehen, die Mühe des Sterbens nicht und die des Herrichtens nicht. Er lag wie im Schlaf, er hatte alles hinter sich, das Gute und das Schlechte. Aber es gab auch noch etwas, was er vor sich hatte: den Weg zurück in den Kreislauf.
Zum Abschluss der Hospizhelfer-Ausbildung arbeitete ich einige Tage in einem Leichenhaus. Die Leichen lagen im Kühlhaus in schwarzen Plastiksäcken mit Reißverschluss. Sie wurden in einen weißen gefliesten Raum gebracht und ihre nackten Körper, von zwei Trägern an Armen und Beinen gehalten, auf einen eisernen Wannentisch gelegt. Dort wuschen wir sie, Haare, Körper, Gesicht. Wir verschlossen die Körperöffnungen – ein grausiges Geheimnis der Bestattungskunde, nun wurde mir auch klar, warum der Mund meiner Großmutter so klein und fest gewesen war –, massierten die Leichenstarre weg und kleideten die Toten an.
Als ich in Amerika lebte, war ich auf einigen Beerdigungen. Alles ist ritualisiert. Stirbt ein Mann, dann kommen alle, die ihn kannten, zur »Wake« (Aufbahrung). Sie stellen sich der Familie vor mit den Worten: »Ich bin Emily, ich ging zur Schule mit ihm«, oder: »Ich bin Martin, ich war sein Kollege.« Dann sagen sie: »Sorry for your loss«, gehen zum aufgebahrten Toten und verabschieden sich von ihm. Kinder tanzen im Raum herum, die ganze Familie ist anwesend. Hatte der Tote Söhne, so werden diese den Sarg tragen. Das ist schön und wirkt trotz der amerikanischen Einbalsamierungswut natürlich.
Die Atmosphäre im Waschraum des Leichenhauses war respektvoll und friedlich. An der Tür hing ein Zettel, der zu Desinfektion, Arbeitskleidung (weißer Kittel) und Handschuhen ermahnte. An den Füßen der Leichen hingen Zettel mit Namen, Geburtsdatum, Todesdatum. Auch die, die nicht aufgebahrt wurden, sondern in geschlossene Särge kamen, diedann ins Krematorium oder zur Erdbestattung weitergeleitet wurden, wurden gewaschen und »schön gemacht«, wie der Gehilfe es liebevoll nannte. Manchmal hatten uns die Angehörigen die Lieblingskleidung des Toten mitgegeben, und wir konnten die Schuhe nur mit einiger Mühe auf die widerspenstigen Füße ziehen. Einem 52-jährigen Mann drückten wir auf Wunsch seiner Frau den Autoschlüssel seines geliebten Audi A6 in die Hand. Das hat mich gerührt. Sie hat ihm kein Foto von sich aufgedrängt, sie wusste, dass er sein Auto mehr liebt als sie. Da liegt er nun. Neulich hat er noch gelebt und seinen Audi A6 geputzt, jetzt hält er den
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