verrueckt nach mehr
ohne weitere Worte mit sich.
Mein Handy gab das Signal, dass eine SMS eingetroffen war, aber ich konnte nicht nachsehen. »Sergio, lass mich los«, rief ich ungehalten.
Als wir in seinem Zimmer waren, schloss er die Tür hinter uns zu und lehnte mit dem Rücken dagegen. Ich stand vor ihm, meine Jacke in der Hand, die Handtasche über der Schu l ter hängend, und sah verwirrt zu ihm hoch.
»Du kannst gleich gehen ... aber vorher will ich dir noch etwas zeigen«, sagte er.
Er war aufgeregt. Sein Brustkorb hob und senkte sich und er blinzelte nervös, während er mich fixierte.
»Was willst du mir zeigen?«
Mir war bange zumute.
Ich war so angespannt, dass ich meinen Herzschlag am Hals spüren konnte.
Er zog sich den Kapuzenpulli über den Kopf und warf ihn aufs Bett. Dann fasste er an den Saum seines Tank-Tops und zog ihn bis zur Brust hoch.
Seine Taille war mit durchsichtiger Folie dick umwickelt.
Ich verstand nicht, wieso, und fragte mich, ob er verletzt war? »Sergio, was ist das?«
Vorsichtig wickelte er die Folie mit einer Hand auf, wä h rend sein Blick auf mich gerichtet blieb. Was zum Vorschein kam, war ein neues Tattoo über seiner rechten Hüfte. Es ging ihm bis unter die Achsel: ein bizarres, baumähnliches Gebilde mit einem kräftigen Stamm und zwei dicken Ästen, in Schwarz und Braun tätowiert. An den Rändern des Motivs war die Haut leicht gerötet.
» Das war also die Sache, die du heute erledigen musstest«, sagte ich leise, wie zu mir selbst.
Er nickte.
Seltsam, dass ich es nicht auf Anhieb gesehen hatte, aber das Motiv war ganz eindeutig ein Ypsilon. Tränen traten mir in die Augen, weil ich dumme Gedanken gehegt hatte, während er ein Andenken an seinen Bruder auf seiner Haut verewigen ließ.
»Sergio ...«, sagte ich heiser. »Das ist schön geworden.«
Er wickelte die Folie wieder um seine Mitte, zog sein Shirt drüber und sah mich an.
»Wirst du damit denn trainieren können?«, fragte ich.
»Beim regulären Training trag ich immer ein Shirt. Auch beim Sparring. Sollte also kein Problem sein.«
»Okay.«
»Ich dachte, es hilft mir vielleicht ...« Er sah mich mit e i nem verzweifelten Blick an, der sich tief in mein Herz bohrte.
Ich ließ meine Jacke und die Handtasche zu Boden gleiten und umarmte ihn. Seine Arme umschlangen mich sofort und drückten mich fest an sich. Er musste sich weit herunterbe u gen, um seinen Kopf in meiner Halsbeuge abzulegen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, damit er sich etwas aufric h ten konnte.
»Tut es aber nicht ...«, flüsterte er bitter. »Nichts hilft ...«
»Sergio, soll ich bleiben?«, fragte ich leise. Ich war plöt z lich überzeugt, dass ich ihn so nicht stehen lassen konnte. Doch zu meiner Verwunderung sagte er: »Nein ... Du hast gesagt, du musst nach Hause, dann geh nach Hause. Wir sehen uns morgen nach Schulschluss vor der Schule.«
Er löste sich von mir und setzte sich aufs Bett.
»Wann musst du morgen im Club sein?«, fragte ich.
»Spätestens 15 Uhr.«
»Dann haben wir etwas Zeit für uns, oder?«
»Mmh.«
Ich gab ihm einen Kuss auf den Mund. Er erwiderte ihn kaum und schien gedankenversunken. Dann verließ ich sein Zimmer.
Bojan begleitete mich noch bis zur Tür und fragte, ob alles in Ordnung sei. »Na ja, ich weiß nicht, ich hoffe ...«, antwo r tete ich knapp und machte mich auf den Weg nach Hause.
Im Bus checkte ich die SMS, die eingegangen war. Eine fremde Handy-Nummer hatte mich zu erreichen versucht, aber keine Nachricht hinterlassen. Ich ignorierte sie.
Winterferien
Den ganzen Morgen bis zur Zeugnisvergabe war die Kla s se völlig überdreht und laut. Herr Friese verteilte kleine Gummibärchen-Tüten und schien bester Laune. Seine Haare standen mal wieder ab, als hätte er mit nassen Fingern in die Steckdose gefasst, und sein Pullover sah eingelaufen aus und war total verfusselt. Er hatte versucht, eine Diskussion über die Bedenklichkeit von Energy-Drinks in Gang zu bringen, aber niemand beteiligte sich mit genug Ernst. Als Leon Ric h ter auch noch meinte, die meisten Erwachsenen würden durch ihren hohen Kaffeekonsum mehr Koffein konsumieren als eine Horde Jugendlicher in einem ganzen Monat durch Ene r gy-Drinks, gab Friese seufzend auf.
»Nun gut ... dann gibt es jetzt eure Giftzettel, meine Her r schaften«, sagte er in der dritten Stunde mit hoffnungsvollem Blick auf seine Armbanduhr.
Adriana und ich legten unsere Zeugnisse nebeneinander und verglichen sie. Wir waren beide
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