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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Vanya. Er fragte nochmals nach ihr. »Ach, Hildred kommt heute nicht«, sagte die kränklich wirkende Kuh am Klavier. »Nein, sie kommt heute bestimmt nicht«, wiederholte sie. Dabei lächelte sie schwach, wie eine Gasflamme, deren Düse mit Staub verstopft ist.
    Er stolperte hinaus ins gelbliche Licht der Straße und verfluchte die Bruga-Frau als eine verdammte Hure, als warzige Teufelin. Er betete, daß alle Strafen des aztekischen Kalenders ihren rabenschwarzen Kopf treffen sollten. Er betete, daß ihr sämtliche Zähne ausfallen und die Haare an ihrem Körper lang und länger werden sollten… Im Gehen
    hörte er das Klimpern der vergilbten Tasten. Ägyptens
    verträumte, versäumte, verschäumte Augen. Er sah in
    Gedanken noch die kleinen, dürren Finger, von denen die modrigen Töne tropften, und das weiche Rückgrat der Frau, das sich unter dem Gewicht ihres konfusen Hirns krümmte, während ihre Zähne klapperten wie Würfel in einem
    Würfelbecher.

    Eine halbe Stunde später drückte er auf Willie Hyslops Klingel. Es öffnete niemand. Er blieb eine Weile vor dem Haus stehen und unterhielt sich mit den Kindern, die auf der Treppe spielten. Dann beschloß er verzweifelt, einen systematischen Gang durch das Village zu machen. Keller, Mansarden,
    Flüsterkneipen, Studios, Cafeterias – er suchte überall nach ihnen. Entmutigt machte er sich schließlich wieder auf den Rückweg zum »Caravan«. Es war, als kehrte er zum
    Schauplatz eines Verbrechens zurück.
    Er erfuhr, daß sie gerade eben dagewesen seien. Rein und gleich wieder raus. Er rannte zu Willie Hyslops Unterschlupf über der Bank in der Hudson Street. Wieder klingelte er. Keine Reaktion. Er ging auf die andere Straßenseite und starrte hinauf zu den Fenstern. Schließlich setzte er sich auf eine Treppe und richtete seinen Blick unverwandt auf die Fassade des Hauses. Die ganze Straße stank nach Kanalisation.
    Fabrikgebäude aus Beton, baufällige Baracken, nächtliche Szenen in schmutziger Wäsche. Eine heruntergekommene,
    schäbige, verwahrloste Boheme. Seine Glieder schmerzten, und seine Gedanken waren mit einem dünnen Film aus
    ekelerregendem Schleim bedeckt. Die Kanalisation stank.
    Seine Gedanken stanken. Die ganze Welt stank.
    Er wollte gerade gehen, als eine alte Frau auf ihn zukam. Sie hatte Flugblätter unter dem Arm.
    »Sind Sie katholisch, guter Mann?« fragte sie.
    »Nein, bin ich nicht!« antwortete er.
    »Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber Sie sehen so traurig aus. Vielleicht tröstet es Sie zu wissen, daß Jesus Sie liebt.«
    »Jesus kann mich mal!« sagte er und stapfte davon.
    In der U-Bahn hob er ein Heft auf, das jemand hatte
    liegenlassen. Es war auf deutsch, und auf dem Umschlag waren lauter nackte Frauen. Sie hatten allesamt dicke Hintern, wie die Frauen, die in München in den Biergärten saßen. Er blätterte in dem Heft. »Guten Tag! Hat meine Kohlrübe heute nacht gut geschlafen?«
    An der Haustür erwartete ihn die Hausmeisterin.
    »Hat jemand für mich angerufen?« fragte er sie.
    Die Hausmeisterin war so knickrig, daß sie nicht einmal den Mund aufmachte. Außerdem hatte sie eine wäßrig-blaue Nase.
    Sie stammte aus Neuschottland. Als er, mit dem vagen
    Verdacht, daß er Hildred im Bett finden würde, die Treppe hinaufsprang, räusperte sie sich. »Ja?« rief er. »Was gibt es?«
    Er sprach nicht laut, weil sie schwerhörig war, sondern um unverschämt zu sein.
    Sie erinnerte ihn daran, daß die Miete überfällig sei.
    »Sind Sie sicher, daß niemand für mich angerufen hat?«
    fragte er.
    »Ja«, antwortete sie. »Erwarten Sie denn einen Anruf?«

    3

    Vanya stand nachts oft auf und lief durch die Straßen. Sie fürchtete sich vor Schatten und schweren Schritten. Sie beklagte sich, daß sich die Wände ihres Zimmers nachts zusammenschoben wie ein Akkordeon. Sie duldete keine
    Blumen in ihrer Nähe, aus Angst, sie könnten sie vergiften.
    Farben hatten eine ungeheure Wirkung auf sie, ebenso wie Gesichter. Es gab Zeiten, da sie nichts anderes sah als Nasen.
    Der Geruch von Lysol brachte sie zur Verzweiflung.
    Weichgekochte Eier machten sie wütend…
    Sie schloß sich oft in ihrem Zimmer ein, setzte sich vor den Spiegel und schminkte sich wie John Barrymore in Das Untier der Meere oder in Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Wenn sie diese schrecklichen Gesichter im Spiegel sah, begann sie zu
    phantasieren. »Wer bin ich?« sagte sie dann. »Was bin ich?«
    Der Gedanke, sie könnte eine Vielzahl von Persönlichkeiten

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