Verrückte Lust
richtigen Reihenfolge waren, und auch nicht so ungeordnet wie nach einem flüchtigen Überfliegen. Er breitete sie aus und betrachtete sie genau. Er folgte Hildreds Daumenabdruck – hier und da waren
Fettflecken, und an einer Stelle war das Papier von einer Zigarette versengt. Einige Seiten waren gänzlich unberührt.
Nun war ihm klar, auf welche Weise die Zeit wie im Flug vergangen war. Sie waren so hungrig gewesen, daß sie ins Restaurant gegangen waren und sich vollgestopft hatten.
Während sie auf das Essen warteten, hatte Vanya zweifellos vorgeschlagen, Hildred solle doch mal einen Blick auf den Brief werfen. Den Brief? Ach, den hatte Hildred schon fast vergessen. Sie lasen ihn gemeinsam, und Vanya kippte ihren Stuhl ein wenig zurück und machte Rauchringe, während
Hildred durch seine Gefühlsduseleien watete. Hin und wieder ein Kommentar: »Ich glaube, du liebst ihn!« oder »Was meint er damit – du bist sein Geier?« Und so weiter. Und dann kam der Kellner mit dem Essen, und der Brief wurde beiseite gelegt, und ein bißchen Suppe kleckerte darauf. Und der Kellner lächelte wahrscheinlich, als er über Hildreds Schulter ein paar Zeilen las. Und danach lachten und plauderten sie und machten Pläne für morgen oder vielleicht schon für heute abend, und dann kam der Kaffee. Die Zigarettenkippen
türmten sich in den überschwemmten Untertassen. Und dann hatten sie bestimmt die Ellbogen aufgestützt und sich
vorgebeugt und brillante Gespräche geführt, denn wenn sie diese Pose einnahmen, richteten sich die Augen aller Gäste im Restaurant auf sie. Sie hatten sich wahrscheinlich gestanden, daß sie einzigartig auf dieser Welt waren und daß die Welt schmutzig und dumm war. Und während sie so redeten, gruben sich die Ellbogen tiefer und tiefer in den Tisch, und die Zeit verging wie im Flug, und sie waren so glücklich, daß sie zusammen dort saßen, und sie waren satt.
Er schloß die Augen, als wollte er die Szene, die er sich vorstellte, deutlicher vor sich sehen. Ab und zu bewegten sich seine Lippen. Er sah alles ganz genau, er gab Anweisungen, wie sie sich bewegen und was sie sagen sollten. So wie ein Schauspiel wirklicher als die Wirklichkeit sein kann, konnte er für sie interpretieren, was sie selbst nicht verstehen konnten.
Alle Einzelheiten erschienen in einem blendenden, sengenden Licht – bis hin zur letzten Bewegung: Hildred ging, ein Lachen auf den Lippen, durch die Drehtür hinaus, als ihr plötzlich einfiel, daß sie ja etwas hatte wieder mitbringen wollen. Und richtig, der Kellner in seiner fleckigen Jacke kam angerannt und schwenkte den zerknitterten Brief…
Sie rannten, vor Eile stolpernd, die Treppe hinauf. Er bemerkte die Verwunderung auf ihren Gesichtern, als sie ihn, vollständig angekleidet, den Brief in der Hand, dastehen sahen. Im nächsten Augenblick hörte er ein schweres Poltern auf der Treppe, und dann erschien ein stämmiger Mann in der Tür und schob einen Schrankkoffer über den Teppich.
Er sah stirnrunzelnd von einer zur anderen.
»Das ist mein Koffer«, sagte Vanya kichernd.
Er ging auf Hildred zu. Seine Stimme bebte vor Wut. »Was hab ich dir über diesen Koffer gesagt?«
Und Hildred: »Das ist jetzt wohl nicht der rechte Moment, um…«
»Schaff dieses verdammte Ding hier raus!«
»Aber Tony…«
»Nichts da ›Aber Tony‹! Schaff das Ding raus, und zwar schnell!«
Und Vanya: »Aber wir haben doch kein Geld mehr, wir
können ihn nicht zurückbringen lassen.«
»Ach ja, ihr könnt nicht? Dann seht her.« Er zerrte den Koffer vor die Tür, stellte ihn am Kopf der Treppe hochkant und gab ihm einen Stoß. Es folgte ein splitterndes Krachen.
Eine Tür wurde aufgerissen, und eine Frau kam schreiend herausgestürzt.
»Er wird verrückt!« rief Hildred. Sie rannte die Treppe hinunter und zog Vanya hinter sich her.
VIERTER TEIL
1
Die neue Wohnung war groß und dunkel. Früher war dort eine Wäscherei gewesen. Von den unverputzten Leitungen an der Decke hingen Zwirnfäden, die einem über die Stirn strichen.
Ein bleiches, mattes Licht sickerte durch die Vorhänge aus Sackleinwand. Hildred haßte das Sonnenlicht.
Im Anbau stand ein riesiges Spülbecken aus Eisen, in dem sich das schmutzige Geschirr stapelte. Die einzige
Wärmequelle war ein offener Kamin, der unbenutzbar war.
Niemand hatte daran gedacht, nach Anschlußmöglichkeiten für einen Gasherd zu fragen oder sich zu erkundigen, ob es Kleiderschränke usw. gab. Trotz dieser Nachteile erklärten
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