Verrückte Lust
verrückt war, denn wenn man nicht verrückt ist, geschieht etwas: In den Wänden sind Türen, und sie öffnen sich, es gibt Sonnenlicht und Gerüche und
Menschen, die vorbeigehen, und Stimmen, und man kann seine Hände bewegen. Später, viel später – es erschien ihr, als seien Wochen vergangen – kamen die Gesichter wieder. Sie waren jetzt verändert: freundlicher, nicht mehr so taub. Sie lösten die Fesseln, und ihre Berührung war sanft. Sie waren Engel, aber verrückte, vollkommen verrückte Engel. Sie bat um Wasser, und sie rezitierten aus Also sprach Zarathustra. Und während sie die Worte rezitierten, erhob sich plötzlich eine seltsame, brüchige Stimme, die falsch sang, wie ein Bauchredner, der ein Glas Wasser trank. Auch die Engel begannen zu singen. Sie sangen im Chor und verdrehten lüstern die Augen. Selbst als sie gegangen waren, hörte der Gesang nicht auf – erst kam er von oben, von der Decke des Raums, dann ertönte er direkt unter ihrem Bett. Es klang, als sängen sie in ihrem Nachttopf, und der Nachttopf zersprang. Immer dieselbe brüchige
Melodie, immer dieselben schmierigen Worte… Immer und
immer wieder, als würde eine Spieluhr im Bauch eines
Automaten langsam ablaufen.
DRITTER TEIL
1
Die Nacht senkte sich herab, und er floh vor seinen Gedanken.
Hildred und Vanya waren dagewesen und dann gegangen oder vielmehr: sie hatten das Weite gesucht – nach einer peinlichen Szene, die mit Flüchen und Androhungen von Gewalt geendet hatte.
Düster ging er von einer schmutzigen Erinnerung zur
anderen. Die Zeit verstrich, aber er saß still; seine Brust war leer, seine Glieder reglos, als hätten sie bereits ihre letzte Bewegung ausgeführt und wären in Schlaf, in ewigen Schlaf gesunken. War es so, das Ende, wenn die Augen groß und glasig starren und alle Geräusche der Welt verschwinden?
Die Schatten der Nacht reckten sich und legten sich mit feierlicher Groteskheit auf die Wand. Er heftete den Blick seiner großen, schmerzerfüllten Augen auf sie, und siehe da, sie bebten, und der ganze Raum begann, sich leicht und rhythmisch zu bewegen. Mit einemmal drängten sich vertraute Worte auf seine Lippen: Ein guter Ruf ist besser als gute Salbe und der Tag des Todes besser als der Tag der Geburt… Die Toten aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. Er dachte an Bob Ingersoll, der an Napoleons Gruft gestanden und gar nicht mehr
aufgehört hatte zu reden; er dachte an all die Ungläubigen, die auf dem Sterbebett Zuflucht bei Gott gesucht hatten, und in seinen Ohren erklang eine Stimme, die sagte: »Wie stirbt doch der Weise samt dem Toren.«
Die Sätze sprangen in einer verknäulten Wolke in seine Gedanken, als wären all die Sonntage, die er in der Kirche verbracht hatte, in einem wirren Traum vereint und als bliebe nichts als eine laute presbyterianische Stimme, die die schmutzigen Brocken eines altersschwachen Segens
ausspuckte. Ein Geruch nach Pimentöl stieg ihm in die Nase, und wieder einmal spürte er einen borstigen Schnurrbart, der sich auf seine Lippen preßte. Eine süßliche, einschmeichelnde Stimme flüsterte ihm etwas zu, aber er wollte nicht hinsehen, denn der Anblick der Kehle des alten Mannes war wie ein offenes Grab.
Er stellte sich an das offene Fenster und setzte sich den eiskalten Windstößen aus. Es war Winter, und alles war tot.
Ein tiefer, schmerzloser Schlaf. Im Hof stand ein hagerer, kahler Baum. Es würde lustig sein, dachte er, wenn Hildred am Morgen ans Fenster treten und seinen gefrorenen Körper sehen würde, der wie ein Fluch am Himmel klebte. Aber was würde es schon machen, ob und wo sie am Morgen seinen Leichnam fanden? Am Morgen würde er sich mit allen Morgen, die es je gegeben hatte, vereint haben.
Er legte sich ins Bett und zog die Decke über sich. Eine Taubheit breitete sich in seinen Gliedern aus; er begann zu glühen, zu brennen. Blieben ihm noch Minuten oder nur
Sekunden? Wenigstens sollte er einen Brief hinterlassen – man hinterließ doch immer einen Brief. Er sprang aus dem Bett und suchte fieberhaft nach Papier und Bleistift.
Die Worte rasten dahin wie mit der Peitsche angetrieben und färbten die glatte weiße Fläche in einer fortlaufenden unregelmäßigen Linie. Als er fertig war, strich ein kalter, dumpfer Hauch, der schon nach Grab roch, über ihn. Der Bleistift entglitt seiner Hand, und als ihm die schweren Lider zufielen, wurde er fortgerissen in eine andere Zeit, in eine endlose
Weitere Kostenlose Bücher