Verrückte Lust
schön: Sie hatte langes schwarzes Haar, hohe Backenknochen, dunkelblaue Augen und einen selbstbewußten Gang. Sie erzählte June, sie wolle Künstlerin werden, und zeigte ihr eine Puppe, die sie Graf Bruga nannte – eine grellbunte und furchterregende Gestalt, der June einen Platz am Kopfteil ihres Ehebettes gab.
June taufte die Fremde in Jean Kronski um und erfand eine romantische Geschichte, in der ihre neue Freundin von den Romanows abstammte.
Bald waren June und Jean unzertrennlich. Jean zog nach Brooklyn, um immer in Junes Nähe sein zu können. Binnen kurzem war Henry klar, daß Jean eine ernstzunehmende
Konkurrentin für ihn darstellte. Er glaubte unbedingt
herausfinden zu müssen, welcher Art die Beziehung zwischen den beiden Frauen war. Er war sicher, daß Jean lesbisch war –
aber June? Seine ganze Jugend hindurch hatte ihn die Frage nach seiner sexuellen Identität gequält, und nun sah er sein schwer erkämpftes Gefühl der Männlichkeit durch Junes
heftige Zuneigung zu einer anderen Frau vollkommen in Frage gestellt. In seinen Notizen zu Verrückte Lust steht an dieser Stelle: »Und jetzt ernsthaft durchdrehen.«
Das Dreiecksdrama kam schnell auf Touren. Jean und die Millers mieteten eine Souterrain-Wohnung in der Henry Street in Brooklyn, gleich neben einer Gasse, die unter dem Namen Love Lane bekannt war. Sie bemalten die Wände mit bizarren Fresken und strichen die Decken dunkelblau. In Verrückte Lust schreibt Miller, die Luft dort sei »blau von lauter Erklärungen«
gewesen: komplizierte Geschichten, erfundene Geständnisse, irreführende Lügenmärchen wurden am »Kotztisch« erzählt.
Aus Verrückte Lust erfahren wir, daß June Henrys sexuelle Neigungen in Frage stellte, was ihren zunehmend labilen Mann zur Weißglut trieb. Ihnen allen fehlte das innere
Gleichgewicht: Jean war (wie Vanya) in einer Heilanstalt gewesen, June befand sich fast sicher an der Grenze zur Psychotikerin, und Miller begann sich zu fragen, ob seine Situation ein Symptom für die Geisteskrankheit war, die bereits ein Mitglied seiner Familie in eine Heilanstalt gebracht hatte. Sowohl June als auch Jean nahmen Drogen, und nach und nach herrschte in der Souterrain-Wohnung eine
Atmosphäre wie in einer Rauschgifthöhle. Abends kämmte er oft Jeans üppiges schwarzes Haar und schnitt ihr die Fußnägel; doch im nächsten Augenblick schon konnte er ein Messer in die Tür zu ihrem Zimmer stoßen. Eines Nachts unternahm er einen halbherzigen Selbstmordversuch; June las nicht einmal den Brief, den er ihr hinterlassen wollte.
Das war die Stimmung, die Miller in Verrückte Lust einfangen wollte. Am Ende des Romans befinden sich Hildred, Vanya und Tony Bring noch immer in ihrer
selbstzerstörerischen Umklammerung in der Souterrain-
Wohnung. Für Miller endete diese Phase seines Lebens an einem Abend im April 1927, als er nach Hause kam und einen Zettel fand, auf dem ihm die beiden Frauen mitteilten, sie seien nach Paris abgereist. Während ihrer Abwesenheit schrieb er die umfangreichen Notizen, aus denen dann die fiktionale Schilderung seiner Erniedrigung durch June und Jean wurde.
Langsam erholte er sich. Zwei Monate später kehrte June allein zurück.
Erst ein Jahr später – und nach einer Reise nach Europa mit June – wandte sich Miller wieder den Ereignissen des Winters 1926/27 zu und begann mit der Niederschrift von Verrückte Lust. June sagte, sie sei nun bereit, jedes Opfer zu bringen, um ihm seinen Durchbruch als Schriftsteller zu ermöglichen. Sie wollte ihn nach Paris schicken, wo er, wie sie hoffte, einen Roman schreiben würde, der ihn berühmt machen und sie in den Rang einer großen Muse erheben würde. In dieser Zeit schrieb er drei Versionen des vorliegenden Romans, der zunächst den Titel Lovely Lesbians trug. Innerhalb der folgenden vier Jahre überarbeitete er das Manuskript
mehrmals, strich Passagen und wählte einen anderen Schluß.
Er änderte den Titel in Crazy Cock, so daß er sich nicht mehr auf die beiden Frauen, sondern auf Tony Bring bezog. Miller hatte gelernt, daß sein eigenes bemerkenswertes Leben – und nicht die Rolle, die andere darin spielten – das Thema war, das ihm am meisten lag. Das war eine wichtige Erkenntnis, denn der »autobiographische Roman« sollte Millers bevorzugtes Genre werden, und sein Leben stand dabei immer im
Mittelpunkt.
Im Februar 1930 traf Miller in Paris ein. Er hatte June ein Exemplar von Lovely Lesbians übergeben, damit sie es New Yorker Verlegern
Weitere Kostenlose Bücher