Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
Vom Netzwerk:
wieder öffnete. Die Bilder verblaßten langsam, erloschen. Schließlich riskierte er es, ein Auge zu öffnen und zum Spiegel hinzublinzeln. Er sah sein blaues Auge, das sehr ängstlich blickte. Er öffnete das andere. Es blickte nicht weniger ängstlich, doch er merkte, wie er langsam die Beherrschung über sich wiederfand. Er konnte immer noch die Wand sehen, wo die dunklere Form seines Körpers sein müßte. Einen Moment lang drohte er die soeben wiedererlangte Beherrschung über sich zu verlieren, doch gleich darauf hatte er sie wieder, und Stückchen für Stückchen verfestigte sich die Transparenz zum Körper, bis er so körperhaft war wie eh und je.
    Es war, als ob er einen Muskel an sich entdeckt hätte, von dessen Existenz er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte, und nun wurde von ihm verlangt, daß er ihn bewegte, ohne genau zu wissen, wo er eigentlich war. Jetzt sagte er zu dem Bild im Spiegel: »Was für ein Scheiß geht hier bloß vor sich?«, und wieder verlor er den Muskel, verlor die Beherrschung über sich. Er fluchte und fing noch mal von vorn an.
    Während der nächsten Stunde übte er, wie er sich zusammenhalten konnte. Als sich genug von ihm angesammelt hatte, daß sich die Sache lohnte, duschte er, rasierte sich mit Laurens kleinem Rasierapparat, obwohl ihm beides eher wie Zeitverschwendung vorkam. Er ging vom Spiegel weg und schlich sich wieder an, um festzustellen, ob er noch da war, wenn er nicht hinsah. Manchmal war er es, manchmal nicht. Er bereitete sich Spiegeleier und aß sie, in der Hoffnung, es wäre seiner Sache förderlich, wenn er noch mehr äße. Es schien keinen Unterschied zu machen. Doch nach und nach lernte er das Gefühl zu erkennen, das dem Auseinanderfallen vorausging, und er lernte ebenfalls, das Gefühl zu erkennen, das den Gebrauch des bis dahin unbekannten Muskels begleitete, mit dem er die Teile wieder zusammenziehen konnte. Und er sah anerkennend ein, daß es entschieden mehr Anstrengung erforderte, einen richtigen Körper zusammenzusetzen, als ihn zerfließen zu lassen. Er neigte dazu, überall und nirgends zu sein; sein Ego verlangte, daß er hier sein sollte, jetzt. Er kämpfte verbissen darum, die Fähigkeit zu erlangen, von der er wußte, daß er sie unbewußt sein ganzes Leben lang besessen hatte, daß alle anderen sich ihrer ohne Anstrengung bedienten.
    Er kochte noch etwas Kaffee und wanderte in der kleinen Wohnung herum, wobei er überlegte, was er als nächstes tun sollte. Jemanden anrufen? – Aber wen? Und was sollte er sagen? Einen Arzt? Er dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. Eine medizinische Kuriosität, untergebracht in einer gepolsterten Zelle, einem fluchtsicheren Raum, Opfer von Untersuchungen und Behandlungen und Tests und nochmal Tests, vielleicht einer anatomischen Zergliederung. Er schüttelte den Kopf noch heftiger. Seine Gedanken brachten ihn zu keinem Ziel.
     
    Lauren legte den Hörer des Telefons in ihrem Büro auf und holte tief Luft. Sie wußte nicht genau, wie es geschehen war, aber es sah so aus, als ob sie mit Morris Pitts zu Mittag essen würde. Sie hatte ihn angerufen, um sich nach einem Privatdetektiv zu erkundigen, und am Schluß hatte sie seine Einladung zum Essen angenommen. Der Morgen war die Hölle gewesen. Als erstes war Peter hereingestürmt und hatte gefragt: »Weitere UNM’s aufgetaucht?«
    »Was ist das?«
    »Unbekannte Nackte Männer.«
    »Nein«, gab sie einsilbig zurück, und er ging mit seinem blasiertesten Lächeln wieder hinaus.
    Milton Newley war ihr erster Patient. Milton wollte gern Chirurg werden, einer von der Art, die ihre Kunst auf den Philippinen lernten und kein Messer benutzten. »Sie wissen schon«, sagte er, »psychische Chirurgie.«
    Sie riet ihm, sein Glück in der Landwirtschaft oder im Gartenbau oder einer Baumschule zu versuchen. Dann erschien Dolores Bard mit den Ergebnissen ihres Tests, und Lauren fiel dazu nichts anderes ein als eine Zukunft für sie als Callgirl. Das hatte sie ihrer Patientin allerdings nicht gesagt.
    Und jetzt war Roger Guest dran. Er hatte den Wunsch, in seiner Firma Leistungsgruppenführer zu werden. Als sie ihn fragte, warum er sich dafür qualifiziert fühlte, sagte er, daß er wußte, wie man die Leute zum Arbeiten motivieren kann, was sie in Gang bringt und wie man sie anspornt. Und dazu lächelte er breit. Seine Testergebnisse zeigten, daß er ungeeignet war, mit mehr als drei Leuten zusammenzuarbeiten und daß er nur unter strenger Aufsicht einigermaßen

Weitere Kostenlose Bücher