Verrückte Zeit
Beruhigungsmittel setzen würde. Sie kannte diese Art von Routinebehandlungen und hatte lange Zeit nichts davon gehalten, doch jetzt brauchte sie Hilfe, wirkliche Hilfe. Sie blinzelte, um die Tränen aus ihren Augen wegzuwischen, dann duschte sie und zog sich an, und Corky sah ihr mit Verblüffung zu. Er hatte mehr Wut erwartet, oder Angst oder sogar Panik, doch sie benahm sich, als ob sie ihn erwartet hätte und einfach im Moment nicht gestört werden wollte. Er las noch einmal ihre Mitteilung und schüttelte den Kopf. Es war sonst nichts mehr im Apartment versteckt, er hatte es gründlich abgesucht, sobald er wieder die Beherrschung über sich gewonnen hatte.
Behutsam schrieb er: Meiden Sie den Aufzug. Sonst gibt es wieder ein Chaos.
Als sie zurückkam und den Zusatz las, wurde sie blaß und schwankte einen Moment lang, dann nickte sie, befeuchtete sich die Lippen und schrieb: Ich werde jetzt eine weite Autofahrt unternehmen. Sie riß das Blatt Papier vom Notizblock, faltete es zusammen und steckte es in ihre Handtasche.
Gut, dachte Corky, und wartete auf ihren Aufbruch. Er zögerte, den Vorgang des Sichtbarwerdens zu beenden, und beschloß, daß es noch zu früh dafür war. Es würde zu schwierig werden, ihr das Ganze zu erklären, wenn er in ihrem Strandkleid und sonst nichts auftauchen würde. Als sie zu Fuß die Treppe hinunterging, dicht gefolgt von ihm, wurde ihm klar, daß er bei der Kommunikation mit ihr in Zukunft noch vorsichtiger sein mußte. Er hatte nicht den Aufzug in diesem Gebäude gemeint, sondern den dort, wo sie arbeitete, der mit zu vielen Leuten vollgestopft war.
Niemand hätte damit gerechnet, daß sie die Treppe über fünf Stockwerke zu Fuß hinuntergehen würde, und der Agent, der in der Garage Dienst tat, war deshalb auf ihr plötzliches Erscheinen nicht vorbereitet, so daß sie ungehindert ins Auto steigen und davonfahren konnte. Erst einen Block später holte er sie ein, doch da war er bereits schweißgebadet und empfand nichts als Erleichterung, als er bei seiner Meldung über ihre Bewegung erfuhr, daß sie Gerald Morrisey ebenfalls verfolgte und auf jeden Fall einer von ihnen beiden sie nicht aus den Augen verlieren durfte.
ZWÖLFTES KAPITEL
Es war ein Fehler gewesen, erkannte Lauren, sich in diesen dichten Verkehr zu begeben. Sie befand sich auf einer breiten Ausfallstraße, auf der sie nicht wenden konnte und die sie unweigerlich zur Interstate-Schnellstraße bringen würde, ohne daß sie etwas dagegen tun könnte. Sie schaltete das Radio ein, hörte jedoch nicht zu und murmelte vor sich hin: »In meiner Familie ist noch nie jemand verrückt geworden.« Ihre beiden Schwestern waren ein bißchen verrückt, dachte sie ärgerlich weiter. Verrückt nach Geld und gutaussehenden Männern und Häusern wie aus Wohnzeitschriften und Designer-Klamotten, und diese Art von Verrücktheit galt als normal, während sie, die sich wenig oder gar nichts aus diesen Dingen machte, im Begriff war, alles zu verlieren. Sie hatte nichts anderes zu verlieren, als den Verstand, fügte sie verbittert hinzu. Sie hätte Trockenblumen oder Schmuck sammeln können, dann hätte sie etwas zu verlieren gehabt, doch wenn einen ein Verlust nicht schmerzte, dann zählte er nicht als solcher, schweiften ihre Gedanken unerbittlich weiter. Wenn man mit einem Dutzend Kinder in einem Elendsquartier haust, und sie alles sind, was man hat, dann können die einem weggenommen werden. Wenn man in einer Luxusvilla wohnt, können einem die Gesundheit und das Geld weggenommen werden und man kann in ein Obdachlosenasyl oder Krankenhaus gesteckt werden. Doch sie lebte ganz bescheiden, sorgte für sich selbst und kümmerte sich um ihre eigenen Angelegenheiten; das einzige, worauf sie stolz war, war ihr gutfunktionierender Verstand, und den wollten sie ihr wegnehmen. Wer sind ›sie‹? fragte sie sich und fand keine Antwort. Einfach sie. Diese gottverdammten sie!
Neben ihr bewunderte Corky ihr Profil, die klaren Linien ihres Gesichtsschnitts, ausgeprägt, doch nicht zu scharf, schlicht gut geformt. Sie hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, und erst langsam dämmerte es ihm, daß sie sich seine Gegenwart noch nicht eingestand. Er betrachtete sie aufmerksamer. Welche Erklärung hatte sie für ihre schriftliche Kommunikation, wenn sie sich nicht eingestand, daß er anwesend war? Oder daß etwas vorhanden war? Und dieses Murmeln, zwischendurch unterbrochen durch einen Fluch, was sollte das dann?
Die
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