Verrückte Zeit
während der Hauptverkehrszeit abschütteln könnte als später. Sie würde nichts mitnehmen, keinen Verdacht dadurch erregen, daß sie mit einem Koffer wegginge. Sie starrte in die Dunkelheit, arbeitete ihren Plan noch genauer aus und wünschte, es wäre Morgen.
Corky träumte mit Bill Bentson, und die Träume handelten von mathematischen Formeln und sonderbaren Symbolen, die tanzten, sich vereinigten, sich trennten und dabei einer verrückten Choreographie gehorchten. Er fischte mit der Mannschaft eines Schleppnetzbootes, flog mit einem Flugkapitän. Er trank Wodka mit einem einsamen jungen Mann, dessen Augen brannten, und er war das Mädchen, dessen Brief der junge Mann in der Hand hielt, während sie mit einem noch jüngeren Mann im Bett lag. Er bediente die Spielautomaten in Atlantic City und beobachtete den Sonnenaufgang in Key West; er begutachtete die Zuckerrübenernte in Kuba, den Fischfang in Jamaika, die Kaffeeplantagen in Venezuela. Er studierte Angriffspläne und Verteidigungspläne und sah zu, wie die letzten Handgriffe bei einer Autobombe erledigt wurden. Er begleitete einen Mann auf seinem Weg zur Arbeit, hielt für kleine Gespräche bei mehreren Uniformierten an, belanglose Scherzchen machend. Der Wagen tauchte auf und geriet in unkontrolliertes Schleudern, und er war der Mann, den nichts gewarnt und der das Ganze zu spät erkannt hatte; er war die anderen, die gelacht hatten; er war die Frau, die sich aus dem Staub machte, er war die junge Frau, die von einem Café aus zusah, wobei sie ihre Tasse in beiden Händen wiegte und sich ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung immer mehr steigerten, bis sie dem klinischen Ausrasten nahe war, während sie die Sekunden zählte.
Er wirbelte umher, und Teilchen eines anderen Bewußtseins wirbelten in der Nähe mit. Er vermengte sich mit ihnen und erfuhr einen Schmerz, einen totalen, quälenden Schmerz, der plötzlich aufhörte. Das andere Bewußtsein war verschwunden. Er versuchte, es zu verfolgen, und es war, als ob er gegen eine Wand aus Stahl prallte und mit solcher Wucht zurückgeworfen würde, daß er keine Möglichkeit hatte, sich dieser Kraft zu widersetzen, sondern immer schneller in einer Flugbahn dahintrieb, die ihn immer weiter weg führte. Es war ausreichend Bewußtsein vorhanden, um nach Hilfe zu schreien, und mit dem stimmlosen Aufschrei fluteten seine Stücke zusammen, und Corky nahm Gestalt an.
Er schwebte hoch oben in der Luft, fiel und fiel, und unten standen Dutzende von Menschen und starrten ungläubig hinauf, während er aus einem wolkenlosen Himmel auf sie herniedertrudelte. Zwei von ihnen legten Maschinengewehre an und feuerten, voller Panik, und er verschwand. Die amerikanische wie auch die deutsche Seite dementierten, was sie gesehen hatten. Es war ein Kugelblitz gewesen oder ein merkwürdiger Vogel oder ein Flugdrachen, oder eine optische Täuschung – Sonnenstrahlen oder Wolkenformationen.
Er hielt einen schwachen Kern zusammen und suchte nach einem Anker, irgend etwas, an dem er sich festhalten konnte. Und er nahm in dem Wertfachgewölbe mit seinen eigenen Unterlagen, seinen eigenen Skizzen und Filzschreibern und Bleistiften wieder Gestalt an. Er zitterte unkontrollierbar.
Er drückte sich das Skizzenbuch an die Brust und atmete in tiefen, schmerzenden Zügen, mit geschlossenen Augen; die vergangene Nacht war aus seinem Gedächtnis gelöscht und hatte nur einen Bodensatz von Schrecken und Angst hinterlassen.
Schließlich öffnete er die Augen; in dem Wertfachgewölbe war es tintenschwarz. Er hatte sein Skizzenbuch nicht gesehen, er hatte einfach gewußt, daß es da war. Auf die gleiche Art fand er einen Lichtschalter, einfach weil er wußte, daß er da war, und er knipste eine kahle Glühbirne an der Decke an und sah sich um. Er wußte nicht, wo er war. Im Saferaum einer Bank? In einem Bombenschutzkeller? Er begab sich auf die andere Seite der Wand und fand den Wachtposten, der mit einem Kugelschreiber ein Kreuzworträtsel löste. Jenseits des Raums, im Freien unter einem grauen Dämmerlicht, war mäßiger Verkehr. Zurück ins Gewölbe. Warum hatte man seine Sachen eingeschlossen, ließ sie bewachen? Er fürchtete sich davor, den Muskel zu entspannen, damit er in den Wachtposten eindringen könnte, um nach Antworten zu suchen. Nicht schon wieder, noch nicht. Diesmal war er fest entschlossen, seinen Kern so lange zu bewahren, bis er wußte, was mit ihm geschah und warum, und wie er den Spuk beenden könnte.
Minerva, dachte er
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