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Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
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Einkaufswagen ankämpfte, aber nur ein oder zwei Sekunden lang, dann ließ sie sich von ihm leiten. Zunächst in die Herrenbekleidungs-Abteilung – Jeans, Sweatshirt, Socken, Turnschuhe, ein Bademantel. Dann in die Damenbekleidungs-Abteilung – ähnliche Sachen für sie, manche davon sogar in der richtigen Größe. Zahnbürsten, Zahnpasta. Anschließend in die Schreibwarenabteilung. Ein Skizzenbuch schwebte in den Einkaufswagen, Bleistifte, ein Notizbuch. Sie wandte sich der Kasse zu, der Wagen ruckte in die andere Richtung. Sie zerrte kurz an ihm, dann gab sie auf und folgte ihm. Eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand machte ihr hastig den Weg frei und starrte sie entgeistert an. Der kleine Junge lächelte breit.
    »Wir brauchen eine Tasche, in der wir die Sachen wegtragen können«, sagte ihr Corky aus nächster Nähe ins Ohr. Sie erschauderte. »Ich hoffe, Sie haben genug Geld dabei für all das Zeug.« Eine Tasche mit Reißverschluß hob sich aus einem Regal und schwebte in ihren Wagen.
    Als sie wieder im Auto saß und fuhr, befand sie sich abseits von der Schnellstraße auf einer kleinen, kurvigen Straße. Sie sah ein Hinweisschild, wo die Fähre zur Insel Whidbey abging. Natürlich, dachte sie.
    »Da ich jetzt etwas zum Anziehen habe«, sagte Corky, »könnten Sie eigentlich irgendwo anhalten, und ich könnte meine Blöße bedecken und mich zeigen.«
    »Nein! Es ist schlimm genug, daß ich Stimmen höre. Ich möchte meine Halluzinationen nicht auch noch sehen. Nie mehr!« Könnte sie die Beherrschung behalten? Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß sie ihren Wahnsinn beherrschen könnte.
    »Lauren«, sagte er ruhig und vernünftig. Sie haßte es, wenn er ruhig und vernünftig sprach. »Mich gibt es wirklich. Ehrlich. Ich weiß nicht, wie ich in diesen Zustand geraten bin, aber mich gibt es wirklich. Warum ist es leichter für Sie, an Halluzinationen zu glauben, als zu glauben, daß es mich wirklich gibt? Mir erscheint das eine mindestens so unwahrscheinlich wie das andere.«
    Sie stellte sich mit dem Wagen in der Reihe an, die auf die Fähre wartete. Es waren nur noch vier Autos vor ihr. Das Schiff tuckerte heran, begleitet von einem Wirbel kreisender Möwen darüber; die weiße Bugwelle hob sich strahlend gegen das dunkelgraue Wasser ab, und der Himmel war von einem nur geringfügig blasseren Grau. Hier, in der Nähe der Docks, war der Geruch nach Benzin stärker als der Geruch nach Meer.
    Mit starr geradeaus gerichtetem Blick sagte Lauren: »Ich bin neurotisch. Ich kann nicht schlafen. Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich traue meinen eigenen Fähigkeiten als Therapeutin nicht. Es widerstrebt mir, Tests durchzuführen und sie auszuwerten. Ich verabscheue es, den Leuten zu sagen, sie sollen in Jobs verharren, in denen sie leiden, und genau das tue ich jeden Tag. Ich weiß, daß Peter ein aalglatter Lügner ist, unsere ganze Klinik ist der reine Betrug, Warren Foley hat seinen Kopf zu viele Jahre lang dem Fußball hingehalten, und Rich Steinman ist ein Versager. Keinen von denen würde ich in meine wahren Gefühle oder Ängste einweihen. Ich bin zu groß, und meine Frisur ist schrecklich, weil ich nicht weiß, wie ich mit meinen Haaren umgehen soll. Meine Füße sind zu groß. Ich war zu gut in der Schule, und ich habe nie eine Freundin gehabt, weil ich niemandem etwas zu sagen hatte und weil niemand mich mochte, weil ich so groß und häßlich war.«
    Auf einmal war die Luft erfüllt vom Geräusch von Motoren, die gerade angelassen wurden. Die Fähre war angekommen; die Autos wachten auf, in die Reihe, in der sie stand, kam Leben. Eine Flut von Autos ergoß sich aus der Fähre, strömte langsam vorbei. Lauren merkte plötzlich, daß sie diese Dinge aussprechen konnte, Dinge, die sie noch nie ganz bis zu Ende durchdacht hatte. Sie konnte sie alle aussprechen. Sie hatte den Zweig Psychoanalyse nicht gewählt, weil sie Angst hatte, selbst analysiert zu werden; sie war zu dem Schluß gekommen, daß das nichts brachte, da es nur auf ungezwungenes Verhalten ankam, nicht auf die öde Landschaft im Bereich der Psyche. Sie hatte die allgemeine Vorstellung von der Psyche ganz und gar abgelehnt. Statistiken und Durchschnittswerte und Normen und Muster des Verhaltens waren entscheidend, sonst nichts. Und sie hatte niemals darüber gesprochen. Aber jetzt konnte sie es. Und sie würde es tun.
    »Was ich vorhabe«, verkündete sie ihrer Halluzination mit grimmiger Entschlossenheit, »ist, einen

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