Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verrückte Zeit

Verrückte Zeit

Titel: Verrückte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Wilhelm
Vom Netzwerk:
sie auf, ging zum Bücherregal und nahm ihren drei Jahre alten Almanach heraus; es gab eine Rubrik Pferderennen, in der alle Derby-Gewinner aufgeführt waren. Sie fuhr mit dem Finger daran entlang und hielt bei Strandgut inne. Sie zitterte, als sie das Buch wieder an seinen Platz schob, und hockte sich auf die Fersen zurückgelehnt auf den Boden vor dem Bücherregal.
    »So etwas wie eine Seele gibt es nicht«, hatte eine ihrer Psychologiedozentinnen, Geraldine Buxton, eindringlich verkündet. »Es gibt das Gehirn, ein fester Baustein unseres Körpers wie die Organe Leber oder Milz. Wir kennen den physiologischen Vorgang, wenn die Lunge ihre Funktion erfüllt, und wir wissen, was sich abspielt, wenn das Gehirn seine Funktion erfüllt.«
    Pflichtbewußt hatte Lauren in ihr Heft geschrieben: Baustein Gehirn.
    Niemand würde eine mystische Bedeutung darin sehen, wenn wir uns in den Finger stechen oder ein Glied verletzen und der betroffene Nerv ein chemo-elektrisches Signal ans Gehirn aussendet, um ihm die Verletzung mitzuteilen. Auslöser für das, was wir als Reflex bezeichnen, ist das Gehirn, das seine Funktion ausübt. Doch wenn es mit gleicher Geschwindigkeit auf andere Reize reagiert, unterstellen Mystiker dem eine metaphysische Bedeutung. Was sie als Intuition, Erinnerung, Träume bezeichnen, sind ebenso erklärbare Dinge wie die Glieder und ihre Reaktion.
    Sie hatte sich notiert: Glied.
    Sie befeuchtete sich die Lippen. Irgendwann mußte sie einmal etwas über Strandgut gelesen haben. Es mußte in ihrer Erinnerung gespeichert worden sein, in einer ganz bestimmten Nervenfaser, und bei einem Reiz auf diese Faser wurde die Erinnerung ausgelöst. Dort war auch Johnny Corcoran gespeichert, dachte sie weiter und nickte dazu übertrieben heftig. Er war vor zwanzig Jahren einer der Spitzenjockeys gewesen. Auch über ihn mußte sie irgendwann etwas gelesen haben. Und über die Auszeichnung als Jockey des Jahres und die Rennbahnen an den verschiedenen Orten. Über all das war in den Zeitungen so viel berichtet worden, daß die meisten Leute darüber Bescheid wußten. Nichts Mystisches war daran. Das Gehirn barg viele Spuren von Erinnerungen, die jahrelang brachlagen. Sie nickte wieder. Richtig.
    Und Toler Harris Musselman? Das gleiche, sagte sie sich stimmlos. Leute wie er machten Schlagzeilen, ein Polizist bei einer wichtigen Festnahme. Oder wenn er tatsächlich ein Colonel der Armee war, dann war es noch wahrscheinlicher, daß sein Bild einmal in der Zeitung erschienen war. Ausgezeichnet für diese oder jene Heldentat. Zeuge im Senat. Es gab viele Gründe, warum ein Bild von jemandem wie ihm in der Zeitung erscheinen könnte, das sie gesehen hatte und an das sie sich erinnerte. Jetzt nickte sie nicht mehr.
    Nein, ermahnte sie sich schwach. Schluß damit! Sie hatte sich geschworen, an all das nicht mehr zu denken. Mit steifen Gliedern stand sie auf und merkte, wie sehr erschöpft sie war. Sie ging an ihr Arzneischränkchen, nahm die Schlaftabletten heraus und schluckte zwei davon mit einem Glas Milch. Dann ging sie ins Bett.
    Sie spielten Verstecken und tollten kreuz und quer durch die Riesenfarne, die mit Diamanten geschmückt waren. Sie waren klein wie Kolibris in dem tiefen, duftenden Schatten, und sie flogen wie Feen, schossen hierhin und dorthin, riefen einander etwas zu, und ihr Lachen klang silbern wie Musik. Er sammelte Diamanten und machte ihr eine Kette, und als er sie ihr um den Hals legte, brannten seine Hände wie Feuer; seine Lippen berührten zärtlich ihren Nacken, ihre Brüste, heißer und immer heißer. Das Band aus Wasser flutete über sie und um sie herum, sang ihnen etwas vor, und sie sanken in das grüne Kissen der Schlucht; doch sie fiel immer weiter, ohne Halt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
     
    Corky schwebte. Über eine schwarze Wüste, einen Ozean, durch Städte und über Land. Manchmal drohte ein eigenwilliges Teilchen, auf Abwege zu geraten, doch es wurde sofort wieder an seinen Platz geschubst; allerdings reichte es nie, daß sich ein Mittelpunkt bilden konnte. Er erlebte Geburt und Tod und Liebe und Haß. Aktiver und passiver Teil, in der Schwebe in einem unendlich interessanten Universum, zeitlos. Nur schwebend.

 
ACHTZEHNTES KAPITEL
     
     
    Lauren wachte mit einem dumpfen, durch Schlaftabletten verursachten Kopfschmerz auf. Sie schleppte sich in die Küche, um Kaffee zu machen, und betrachtete die Fragebogen auf dem Tisch voller Abscheu. Später, dachte sie; später würde sie sich

Weitere Kostenlose Bücher