Verrückte Zeit
den Hebel ansetzen? Er suchte noch mal die Berichte über Joanna, blätterte sie durch und verwarf diesen Gedanken. Joanna war wie ein weicher, schnuckeliger Teddybär, den man mit ins Bett nahm und danach vergaß. Ein Profi wie Corcoran würde keinen Gedanken mehr an sie verschwenden, wenn er mit ihr einmal fertig war. Steele? Könnte sie als Hebel benutzt werden? Das bezweifelte er. Sie arbeiteten höchstens zusammen. Corcoran hatte zuviel Zeit mit der anderen verbracht, um auch mit der Steele etwas haben zu können. Aber, was wichtiger war, Agenten wußten, daß andere Agenten notfalls geopfert werden mußten. So funktionierte das Spiel.
Er war nackt wie ein Neugeborenes, hatte Musselman beharrlich wiederholt, und Drissac hatte das bestätigt. Sollte man den Raum in einen Farbdunst hüllen? Sollte man ihm mit Spezialstaub beikommen, mit dem man Diebe überführte? Er betrachtete noch einmal die Photos der Kleider, die Corcoran bei seinem Verschwinden an jenem ersten Abend zurückgelassen hatte, und runzelte die Stirn. Der Kerl konnte sich selbst unsichtbar machen, doch anscheinend nicht seine Kleider. Bedeutete das, daß es nicht ein Gerät im eigentlichen Sinne war, mit dem er es machte? Sondern vielmehr eine Tablette oder so etwas? Oder ein Implantat? Er nickte bei diesem Gedanken. Sie müßten seine Leiche bekommen und das Implantat finden, oder was immer es war. Während er sich Phantastereien über die Möglichkeit des Unsichtbarwerdens hingab, sich vorstellte, was er alles tun könnte, wenn man ihn nicht sehen würde, aß er den letzten Sandwich und trank den Rest Kaffee und grübelte weiter über den Photos von Corcorans Kleidung. Wie, zum Teufel, war er aus seinen Schuhen geschlüpft, ohne die Schnürsenkel zu lösen? Der Reißverschluß seiner Jeans war hochgezogen, die Gürtelschnalle geschlossen. Wie, zum Teufel, hatte er das geschafft?
Lauren war vom Büro aus direkt nach Hause gegangen. Der Agent hatte berichtet, daß sie geweint hätte. Das stimmte nicht. Sie bebte vor Lachen.
In ihrem Apartment hatte sie wieder angefangen zu kichern, und zwischendurch, während sie Rühreier und Toast und Kaffee machte, lachte sie laut auf. Nachdem sie in der Küche aufgeräumt hatte, lief sie einige Minuten lang ziellos hin und her, erinnerte sich an etwas und ging schnell in ihre Abstellkammer, wo sie Kartons mit allerlei Papierkram untergebracht hatte. Sie durchwühlte sie, bis sie die Testbogen fand, die sie für die zweitausend Beschäftigten der Caldwell Corporation abwandeln würde, nahm sie mit zum Tisch und setzte sich hin, um sich Notizen zu machen.
Die Schrift schien vor ihren Augen zu tanzen; Buchstaben flossen ineinander, verschwammen, strömten auseinander. Linien wanderten auf und ab. Selbst die Worte, die sie lesen konnte, ergaben nur Unsinn, mußte sie feststellen. Sie blätterte schnell durch die Seiten, blinzelte und las die Zeilen, auf die zufällig ihr Blick fiel. Bewerten Sie mit Noten von 1 bis 10 die Erwartungen, die Sie mit Ihrer Arbeitsstelle verbinden, und zwar 1 für die niedrigste und 10 für die höchste Erwartung. Sie nickte ernst; das ergab doch wenigstens einen Sinn, oder nicht? Eins für das Niedrigste, zehn für das Höchste. Erfüllung, Selbstachtung, Achtung vor anderen, die Möglichkeit, kreativ zu sein, Umgang mit Menschen, ein hohes Gehalt … Sie dachte: die Möglichkeit, den ganzen Tag ein Dingsbums in ein anderes Dingsbums zu stecken – es kam jedoch keine entsprechende Antwort vor, der sie dafür eine Note hätte geben können. Sie blätterte weiter. Welche primäre Pflicht hat ein Arbeitgeber als Bezugsperson gegenüber seinen Mitarbeitern? Keine Frau zu sein, dachte sie, aber auch diese Antwort war nicht vorgesehen. Primär … Bezug … sagte sie mit angehaltenem Atem, und dann laut: »Primärbezug-Ausschluß-Therapie!« Sie ließ den Kopf auf ihre am Tisch liegenden Arme sinken, doch seltsamerweise verwandelte sich ihr Kichern in Schluchzen, und sie konnte nicht aufhören.
Nach einer Weile taumelte sie ins Bad und wusch sich das Gesicht, betrachtete sich voller Ekel im Spiegel und ging wieder zu den Papieren. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, wie sie sich fest vorgenommen hatte, doch anscheinend war die Botschaft bei ihrer Hand nicht angekommen. Sie beobachtete, wie sie schrieb: Kentucky Derby, Churchill Downs, Louisville, Kentucky. Preakness, Pimlico, Baltimore. Belmont Stakes, Elmont Stakes, Elmont, New York. Johnny Corcoran. Hialeah, Miami. Dann stand
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