Verschärftes Verhör
ist krank«, antwortete Morrow ausdruckslos. »Schilddrüsenkrebs. Sie wird bald sterben.«
»Oh«, entfuhr es Harry.
»Auf Wiederhören, Harry.«
Er legte das Telefon auf die Armlehne des Liegestuhls und schaute zum Himmel hinauf. Suchte wieder den Uranus. Es war, als hätte er plötzlich das Gleichgewicht verloren, als hätte sich die Achse des Himmels geneigt, hinein in den dunklen Fleck des Meeres. Doch der grüne Planet war noch da und leuchtete wie ein Anker unter Millionen verstreuter Sterne.
Die Glastür glitt auf, und Harry hörte, wie Chars nackte Füße auf die hölzerne Veranda tappten.
»Ich dachte schon, du hättest keine«, sagte sie, legte die Hände auf seine Schultern und beugte sich vor, bis sich ihre Brüste in seinen Nacken schmiegten.
»Keine was?«
»Freunde.«
»Du hast recht.« Er kam sich plötzlich alt vor. »Habe ich auch nicht.«
Sie schlang den Arm um seinen Hals und setzte sich auf seinen Schoß. Harry spürte, wie sich etwas in ihm regte, spürte es mit einem verzweifelten Drängen, das er seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Er schob seine Hüften unter ihre, legte die Hände um ihre Taille und zog sie zu sich. Ihr langes, dichtes Haar roch nach Marihuana und Jasminshampoo.
Sie küsste ihn, beugte sich zurück und betrachtete ihn lächelnd. »Vielleicht sollte dein Mr Morrow öfter anrufen.«
11
Marokko
»Lügen!« Die Stimme im Flur vor Manars Zimmer klang laut und ungehalten. Die Worte wurden vom rhythmischen Schaben einer Scheuerbürste auf dem Terrakottaboden unterstrichen. »Lauter Lügen. Wie kann er behaupten, er habe nichts davon gewusst?«
Dann eine zweite Stimme. Sie gehörte Jamila, der leitenden Haushälterin der Familie. »Er ist unser König. Möge Gott ihn beschützen.« Sie sprach im Flüsterton, wie Manars Mutter es angeordnet hatte. Das galt für alle Gespräche, die im Haus geführt wurden. Als wäre Manar krank und Lärm der Grund dafür.
Bei ihrer Rückkehr nach Hause war sie zunächst dankbar für die Ruhe gewesen. In der Stille des Gefängnisses war ihr Gehör so scharf geworden wie das einer Blinden, und ihre Ohren reagierten auf die geringste Veränderung. Sie hatte gelernt, die Klangwechsel des Wüstensandes zu erkennen, der über den einsamen Luftschacht ihrer Zelle strich, wenn der Wind die Richtung änderte, und die Nuancen in der Stimme einer Gefangenen, die im Sterben lag und durch die Wand zu ihr sprach.
In jenen ersten Monaten zu Hause konnte sie das Trommelfeuer der Farben, Gerüche, Geschmäcker und Klänge, das auf sie einprasselte, kaum ertragen. Es empörte sie, wie gleichgültig alle um sie herum der sinnlichen Fülle begegneten. Inzwischen aber störte sie das Flüstern ungemein, und die gedämpften Töne der Dienstboten erinnerten Manar stets aufs Neue an die Jahre in der Wüste und das, was sie verloren hatte.
Dann wieder die erste Stimme. »Er ist nicht besser als sein Vater.«
Vermutlich sprach die neu eingestellte Frau, die sie am Morgen mit ihrer Mutter im Innenhof gesehen hatte. Niemand sonst im Haushalt hätte den Monarchen so dreist angegriffen.
Die Frauen sprachen über den jüngsten Skandal im Waisenhaus von Ain Chock, von dem der König angeblich nichts gewusst hatte. Obwohl Manar mit voller Absicht keine Zeitungen las und nicht fernsah, war ihr die Geschichte nicht entgangen. Zu Beginn der Woche hatte sie gehört, wie sich das Küchenpersonal darüber unterhielt. Die Leute sprachen vom Leid der Waisenkinder und der Gier der Heimleiter, die jahrelang das Budget des Waisenhauses in die eigene Tasche gesteckt hatten.
Manar war nicht überrascht, Korruption war nichts Neues für sie. Eigentlich hätte niemand überrascht sein dürfen, doch die besonders grausamen Einzelheiten, die furchtbaren Bedingungen, unter denen die Kinder gelebt hatten, und die Erniedrigungen, die sie ertragen mussten, hatten vor allem die Armen in der Stadt entsetzt. Menschen, deren eigene Lebensbedingungen sich gar nicht so sehr von Ain Chock unterschieden.
»Meine Mutter hat während der bleiernen Jahre in Ain Chock gearbeitet«, sagte die jüngere Frau. Es war der volkstümliche Begriff für die Jahrzehnte brutaler Unterdrückung, die die Herrschaft von Hassan II., dem Vater des gegenwärtigen Königs, geprägt hatten. »Dorthin brachte man die Kinder der Verschwundenen.«
Die Frauen bewegten sich weiter, das Geräusch der Bürsten wurde leiser. Dennoch konnte Manar hören, wie Jamila vorwurfsvoll mit der Zunge schnalzte. Ihr Tuch
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