Verschärftes Verhör
raschelte, sie drehte wohl den Kopf und schaute zu Manars Zimmertür. »Die Madame«, warnte sie kaum hörbar. »Wir dürfen nicht über diese Dinge reden.«
Manar schlich zur Tür und drückte das Ohr ans Holz, da sie hoffte, die Antwort der jungen Frau zu hören. Es kam keine. Auf einmal verspürte sie den Wunsch, die Frau zu sehen. Sie hatte am Morgen nur einen flüchtigen Blick auf sie geworfen und hätte der Stimme gern ein Gesicht verliehen. Ihr Drang war mehr als bloße Neugier, sie wollte gesehen und zur Kenntnis genommen werden, die beiden Frauen sollten wissen, dass sie sie gehört hatte. Sie legte die Hand an den Türknauf, stieß die Tür auf und trat in den Flur.
Jamila blickte auf. Ihre Blicke begegneten sich flüchtig, und Manar las absolutes Erschrecken in ihnen. Die Frau senkte hastig den Kopf und bewegte die Arme in rasendem Tempo über den Boden.
Die jüngere Frau blickte ebenfalls auf, hielt Manars Blick aber stand. Sie hatte gerade die Bürste aus dem Putzeimer genommen, und ihre dunklen, muskulösen Unterarme waren mit zarten Seifenblasen bedeckt. Sie war etwa so alt wie Manar und auch frühzeitig gealtert. Sie hatte das Gesicht einer Bäuerin, rau und derb, mit schwarzen, abgebrochenen Zähnen.
»Guten Tag, Madame«, sagte sie.
»Guten Tag«, entgegnete Manar. »Kümmert sich Jamila um dich?«
Die Frau nickte.
»Ich glaube, du kennst meinen Namen«, sagte Manar. »Und deiner ist …?«
»Asiya.«
Die Heilerin, dachte Manar.
»Das mit Ihrem Kind tut mir leid, Madame«, sagte Asiya.
Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus der Wüste hatte jemand das Kind erwähnt, und darauf war sie nicht gefasst. Ihre Knie gaben unter ihr nach, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»War es ein Junge oder ein Mädchen?«
»Ein Junge.«
»Ich habe auch einen Sohn verloren. Typhus. Er war drei.«
Manar nickte. Was sollte sie sagen? »Er ist an einem besseren Ort, Inschallah.« Was man bei solchen Gelegenheiten eben sagte.
»Ja«, erwiderte Asiya. »Inschallah.«
Doch ihr Tonfall verriet, dass sie ebenso wenig auf Gottes Willen vertraute wie Manar.
Spanien
»Ich bin fertig«, verkündete Abdullah, leckte sich die letzte Schokolade von den Fingern und deutete träge auf das Frühstückstablett, das neben ihm auf dem Bett stand. »Du kannst das mitnehmen.«
Es war noch eine Menge Essen übrig – Joghurt, Datteln und genügend Churros, um Jamal und mindestens ein halbes Dutzend der anderen Jungen satt zu machen. Er wusste aus Erfahrung, dass sie ständig Hunger litten, hütete sich aber, um die Reste zu bitten.
Er nahm das Tablett und wich mit einer leicht buckelnden Bewegung zurück, wie ein Hund, der sich einem Stärkeren unterwirft.
Abdullah sah ihm nach. »Du kannst dir einen Churro nehmen, wenn du möchtest.«
Jamal nickte und versuchte, die harmlose Dankbarkeit eines Kindes zu zeigen. »Danke, Papa.«
Doch sowie er im Flur stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, verlor er die Beherrschung. Zitternd vor Gier stopfte er sich das Gebäck in den Mund, eins nach dem anderen. Als er die Churros aufgegessen hatte, fiel er über Datteln und Joghurt her und leckte die Schüssel sauber, bevor er das Tablett in die Küche brachte.
Als Jamal zurückkehrte, lag Abdullah noch immer im Bett. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen, und schien dies auch nicht vorzuhaben. Er stellte seinen fleischigen Körper zur Schau. Die Genitalien verschwanden fast unter dem riesigen, fetten Hängebauch. Er klopfte neben sich auf das Bett, und Jamal zwang sich, vorzutreten.
»Sprichst du heute mit dem Kapitän?«, fragte er vorsichtig, da er das, was er in der letzten Nacht erreicht hatte, nicht zerstören wollte.
Abdullah schnaubte. »Morgen«, sagte er. »Morgen sehe ich den Kapitän. Du würdest ohnehin nicht heute fahren wollen. Es ist Sturm angesagt.«
Jamal schaute hinaus zum makellos blauen Himmel. Warum konnte er den Mann nicht einfach fragen?, dachte er und war auf einmal wütend, weil man ihn so schamlos belog. Geld war nicht der Grund, denn außer ihm wollte niemand nach Süden übersetzen. Jamal war sicher, dass ihn irgendjemand im Tausch gegen Mithilfe und ein bisschen Gesellschaft mitnehmen würde. Wenn nicht, blieb immer noch der Rest der hundert Euro, die ihm der Amerikaner gegeben hatte.
Nein, dachte er, Abdullah wollte ihn dafür bestrafen, dass er ihn damals verlassen hatte. Er hatte gar nicht die Absicht, ihm eine Überfahrt über die Meerenge zu
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