Verschärftes Verhör
mit all seinen Makeln im grellen Licht erkennen konnte. Ihre Oberschenkel waren dick, das Schamhaar ein dunkles, widerspenstiges Dreieck, der Bauch schlaff und von silbrigen Schwangerschaftsstreifen gezeichnet. Zwei Kinder, dachte Harry, vielleicht auch drei.
Char griff zum Telefon und klemmte es zwischen Kopf und Schulter. Dann schaute sie ihn fragend an.
»Hallo?«, hörte er sie sagen.
Harry schüttelte heftig den Kopf, da er nicht gestört werden wollte, vergeblich.
»Ja«, sagte sie zu dem Anrufer und deutete auf das Telefon, als hätte Harry nur nicht verstanden, dass es für ihn war. »Er ist hier. Dürfte ich fragen, mit wem ich spreche?«
Vielleicht hatte sie Grundbuchrecherchen in einer Anwaltskanzlei betrieben, dachte Harry. Oder bei einer Versicherung gearbeitet, in einem dieser notwendigen Jobs, die Außenseitern vollkommen überflüssig erscheinen. Bestimmt hatte Char so etwas gemacht. Einen Augenblick lang sah er sie in einem billigen Kostüm und soliden Schuhen im Auto sitzen und ein Essen aus dem Imbiss verzehren.
»Bleiben Sie dran«, sagte sie, legte die Hand über den Hörer und öffnete die Terrassentür.
Verzweifelt griff Harry nach seinem Glas und leerte den letzten Tropfen. Es gab keine Menschenseele, mit der er gern nüchtern gesprochen hätte.
Char beugte sich vor, wobei ihre Brüste nach vorn schwangen und die Brustwarzen sich groß und dunkel unter dem Hemd abzeichneten. »Ein gewisser Dick Morrow«, flüsterte sie, zuckte leicht mit den Achseln und drückte ihm den Hörer in die Hand.
Harry hielt ihn ans Ohr und bedeutete ihr, ihn allein zu lassen. Damit wollte er nur seine Würde wahren, denn er wusste genau, dass sie nicht diskret ins Bett gehen würde. Als sie hineingegangen war, schloss er die Schiebetür.
»Harry?«, meldete sich Dick Morrow. »Hier ist Dick.«
Neuntausend Kilometer lagen zwischen ihnen, und doch trafen ihn die Worte wie ein Hammerschlag. »Ja?«, fragte er ruhig.
Morrow räusperte sich, wie es seine Gewohnheit war. »Hawaii also?«, fragte er betont beiläufig. »Dann kannst du endlich Sterne gucken. Ich weiß noch, wie schön es da draußen –«
Harry ließ ihn nicht aussprechen. »Was willst du?«
Erneutes Räuspern und eine dramatische Pause. »Es geht um Madrid, Harry.«
Eigentlich hätte er jetzt eine Frage stellen müssen, wollte sich aber nicht zum Komplizen machen. Er sah zu, wie Char durch die Küche tappte und die alte Kaffeedose von Lion, in der sie ihren Vorrat aufbewahrte, aus dem Schrank über der Spüle holte.
»Es geht um den Jungen«, sagte Morrow schließlich. »Er ist verschwunden.«
»Das dürfte doch wohl das Problem der Agency sein«, sagte Harry, der zur Genüge wusste, wie weit Morrows Einfluss reichte, seit er sich im Pentagon aufs »Altenteil« zurückgezogen hatte. »Solltest du nicht lieber irgendwo Golf spielen? Ich habe gehört, Florida sei ideal dafür.«
Morrow ignorierte die Bemerkung. »Irgendeine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Nicht die geringste«, erwiderte Harry, was sogar der Wahrheit entsprach.
»Er steckt wirklich in Schwierigkeiten. Das muss ich dir doch wohl nicht sagen. Jetzt geht es darum, wer ihn zuerst findet.«
Ja, dachte Harry, und Gott steh ihm bei, falls du derjenige sein solltest. »Vielleicht solltest du mit meinem Nachfolger sprechen«, schlug er vor. »Das war doch ein ganz scharfer Hund. Ich glaube, er heißt Flynn.«
Morrow räusperte sich wieder. Jahrzehntelange Erfahrung und Bauchgefühl verrieten Harry, dass Justin Flynn nicht länger für Befragungen zur Verfügung stand.
»Ich weiß gar nichts. Das hat man dir sicher gesagt. Darum haben sie mich auch aus dem Verkehr gezogen.«
»Mir hat man gesagt, du habest dich wöchentlich mit dem Jungen getroffen. Dabei müsst ihr doch über irgendwas geredet haben.«
Er versuchte nicht einmal, seine Schnüffelei zu verbergen. Warum auch? Sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
»Wir haben Karten gespielt«, sagte Harry und beobachtete, wie Char sich einen Joint anzündete und genüsslich daran zog.
Morrow schwieg einen Moment, verblüfft, dass Harry seine Unfähigkeit so offen eingestand. »Du wirst mich persönlich anrufen, falls dir etwas einfällt. Du hast doch noch meine Nummer, oder?«
»Ja«, sagte Harry. Und dann, bevor Morrow einhängen konnte: »Wie geht es Susan?«
Es war eine dumme Frage, geradezu selbstmörderisch, und Harry schämte sich sofort dafür. Aber er hatte sie gestellt und konnte sie nicht zurücknehmen.
»Sie
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