Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
Vom Netzwerk:
mehr üppiges Gras? Sie wussten gar nicht, wie gut sie es hatten.
    Ganz vorsichtig, um Char nicht zu stören, schob er die Decke beiseite, setzte langsam die Füße auf den Boden und griff nach der abgenutzten Ausgabe von Keplers Weltharmonik, die auf seinem Nachttisch lag. Mein Koran, hörte er sich zu Jamal sagen. Es war eine dumme Bemerkung gewesen, genauso dumm wie seine letzte Geste. Er bedauerte zutiefst, dass er die Seite herausgerissen, dass er Sentimentalität über Vernunft hatte siegen lassen. Selbst jetzt konnte Harry sich kein besseres Symbol seines Scheiterns vorstellen als das Werk Keplers, der seiner vergeblichen Sehnsucht so viel geopfert und sein ganzes Leben damit verbracht hatte, das Unversöhnliche zu versöhnen, Gott und Wissenschaft miteinander zu vereinen.
    Falls du jemals wirklich in Not bist. Er zuckte zusammen, als er sich an die Worte erinnerte. Stattdessen hätte er sagen sollen: Falls du jemals wirklich in Not bist, ruf mich um Gottes willen nicht an.
    »Kannst du nicht schlafen?« Char berührte ihn am Rücken.
    Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu ihr um. Sie hatte die Decke beiseitegeschoben und ihren nackten Körper enthüllt. Es war nicht Susans Körper und auch nicht Irenes, sondern ein Körper, der Narben trug, dessen Brüste und Bauch und Oberschenkel unwiderruflich gezeichnet waren.
    Sie klopfte einladend aufs Bett, wollte keinen Sex, sondern Schlaf, und Harry dachte bei sich, ja, das ist das süße Vergessen, die Absolution.
    »Komm wieder ins Bett«, sagte sie ungeduldig und zog ihn zu sich herunter, bis Harry nichts anderes übrigblieb, als sich zu fügen.
Marokko
    Zwei Stunden, dachte Manar, als sie aus dem Bus stieg und zusah, wie die Haushälterin die Straße überquerte. So lange hatte sie vom Haus ihrer Mutter, das in einem begrünten nördlichen Vorort lag, bis in die wuchernden Slums am südlichen Stadtrand gebraucht. Zwei Stunden für eine Strecke, und dazwischen kratzte sie acht Stunden lang die Scheiße aus ihren Toiletten. Und wofür? Manar wusste nicht, was ihre Mutter den Frauen bezahlte, aber es war sicher nicht genug.
    Sie hielt inne und warf einen Blick über die Schulter, bevor sie Asiya in die elende Kloake folgte. Vermutlich wurde sie nicht beschattet, sie hatte gut aufgepasst, als sie das Haus verließ. Dennoch sollte niemand erfahren, dass sie hier war. Auf der Rückfahrt musste sie sich noch eine Geschichte ausdenken, um ihr Verschwinden zu erklären. Im Augenblick konzentrierte sie sich ganz darauf, Asiyas safrangelber Dschellaba und dem passenden Kopftuch zu folgen.
    Die Sonne war eben erst untergegangen und färbte den smogverhangenen Himmel magentarot. Vom Hügel aus wirkte der Slum überirdisch schön, und die Blechdächer funkelten wie rosige Segel am Abhang.
    Vor zwanzig Jahren, während ihrer Studentenzeit, hatte Manar häufig die Elendsviertel der Stadt aufgesucht. Zusammen mit Yusuf und den anderen hatte sie Streiks und Protestveranstaltungen organisiert und das Evangelium der Revolution verbreitet. Betroffen erkannte sie, wie wenig sich seither verändert hatte. Bis auf die Satellitenschüsseln, die wie fremde Monde auf den Dächern der wohlhabenderen Baracken sprossen, sah der Slum genauso aus wie früher.
    In den schmalen Gassen war schon die Nacht hereingebrochen. Die Sonne war längst hinter den schiefen Mauern des Viertels verschwunden, und ein wirres Netz aus illegalen elektrischen Leitungen lief im Zickzack über den Himmel. Essensgerüche drangen aus improvisierten Küchen, ranziges Öl und Gewürze vermischten sich mit dem Gestank der offenen Kanalisation. Hier und da der unverkennbare Gestank des Todes. Der Geruch von Armut, dachte Manar, während sie Asiya hinterherstolperte, der Geruch von Armut und Gefangenschaft.
    Es ist nicht dein Kampf, hatte ihr Vater am Nachmittag vor ihrer Verhaftung gesagt. Auch damals hatte sie sich hinausgeschlichen, obwohl er ihr verboten hatte, zum Streik zu gehen. Es ist unser aller Kampf. Es war das Letzte, was sie zu ihm gesagt hatte, das Letzte, was sie jemals zu ihm sagen würde.
    Welche Arroganz, dachte sie jetzt, welch unglaubliche Naivität. Ihr früheres Selbst war ihr peinlich. Sie schämte sich für die Dreistigkeit, mit der sie in die Häuser der Menschen eingedrungen war, und den Hochmut, mit dem sie sich ihr Leid zu eigen gemacht hatte.
    Eine Gruppe blasser Gestalten tauchte aus der Dunkelheit auf. Vier Jungen drängten sich hungrig um einen Kanister Butangas, die Augen riesig von

Weitere Kostenlose Bücher