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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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den Dämpfen. Manar blieb kurz stehen und betrachtete die Gesichter, hoffte beinahe auf vertraute Züge und fürchtete zugleich, jemanden zu erkennen.
    Im Gefängnis hatte sie als Erstes gelernt, dass die Hoffnung – auf ihr Kind, auf eine Decke im Winter, auf eine Zelle, in der sie aufrecht stehen konnte, oder auf eine Stimme jenseits der Wand – ihr schlimmster Feind war. Wenn sie weiterleben wollte, so hatte sie schon früh begriffen, musste sie ohne jede Erwartung leben. Im Grunde musste sie leben, als wäre sie tot und das Kind in ihrem Inneren auch. Alles andere war unerträglich.
    Zum ersten Mal seit vielen Jahren gestattete Manar sich solche Gedanken, stellte sich vor, der Junge sei noch am Leben. Sie fühlte sich seltsam furchtlos, sogar entschlossen.
    Asiya blieb vor einer Hütte stehen und drehte sich um. Sie wartet auf mich, dachte Manar. Wie lange hatte die Haushälterin schon gewusst, dass sie ihr folgte? Oder hatte sie seit ihrem ersten Gespräch im Flur geahnt, dass Manar kommen würde?
    »Mein Haus«, sagte sie, stieß die Tür auf und bedeutete Manar mit einer Geste, sie möge eintreten.
    Manar spähte vorsichtig hinein. Es war nur ein kleiner Raum. Lehmboden, vier Mauern und ein Dach. In einer Ecke schützte ein Vorhang die Intimsphäre. Dazu gab es ein paar zusammengesuchte Möbelstücke. Vor einem Gasbrenner hockte eine alte Frau und rührte in einem großen Topf mit gekochten Erbsen, während sie einen kleinen Fernseher fixierte.
    »Kommen Sie.« Asiya nickte aufmunternd, worauf Manar langsam über die Schwelle trat.
    »Meine Mutter«, sagte die Haushälterin und deutete auf die alte Frau. »Sie sind gekommen, um sie nach Ain Chock zu fragen, oder?«
    »Ja.« Im Fernsehen lief eine ägyptische Seifenoper, die sich Manars Mutter auch immer anschaute; gewiss saß sie in diesem Moment vor dem Fernseher. Wie in den meisten Seifenopern ging es um eine reiche und eine arme Familie, deren Leben sich über die Jahre hinweg immer wieder überschnitt.
    »Sie werden mit uns essen«, teilte Asiya ihr mit. »Dann wird sie Ihnen erzählen, was Sie wissen wollen.«
    Die alte Frau schöpfte Erbseneintopf in eine Schale. Manar hockte sich hin und nahm sie dankend entgegen. Als sie die Schale an die Lippen hob, wurde ihr plötzlich übel. Es lag nicht am Essen; oft wäre sie dankbar für ein solches Festmahl gewesen. Es war die Scham, die sie innehalten ließ.
    Sie zwang sich, das Essen hinunterzuwürgen, nahm eine zweite Portion entgegen und aß sie ebenfalls auf. Manar wusste, die Frauen würden wegen ihrer Großzügigkeit am nächsten Tag hungern. Andererseits wusste sie auch, dass es keine schlimmere Beleidigung gab, als Gastfreundschaft zurückzuweisen; dass sie lieber hungerten als ihre Besucherin mit leerem Magen nach Hause zu schicken.
    Als sie fertig gegessen hatten, räumte Asiya die Schalen weg, setzte Wasser auf und stellte drei angeschlagene Gläser für Pfefferminztee hin.
    Noch ein Ritual, dachte Manar und sah ungeduldig zu, wie die Haushälterin getrocknete Minze und kostbaren Zucker in eine Kanne löffelte.
    Asiya servierte den Tee und wandte sich dann an ihre Mutter. »Das ist die Frau, von der ich dir erzählt habe«, sagte sie laut. »Sie ist gekommen, um dich nach dem Kind zu fragen.«
    Die Greisin wandte sich vom Fernseher ab und schaute Manar an. »Ein Junge oder ein Mädchen?« Sie entblößte beim Sprechen schwarze Zähne.
    »Ein Junge. Er wäre jetzt neunzehn.« Sie überschlug rasch im Kopf, ja, das Alter musste stimmen.
    Eine Schabe kroch über den Rand des Kochtopfs, und die alte Frau schnippte sie mit dem Finger weg. Ihre Fingernägel waren gelb und rissig. »Es gab Jungen wie diesen in Ain Chock. Möglicherweise habe ich ihn gekannt. Wie war sein Name?«
    Manar wollte antworten, hielt dann aber inne. Für sie war er immer Yusuf gewesen, weil sie das vereinbart hatten – wenn das Kind ein Junge wäre, sollte er den Namen seines Vaters tragen. »Ich weiß es nicht«, gestand sie.
    Die alte Frau nickte und ergriff Manars Hand. »Es ist besser so, Schwester, das versichere ich dir.« Ihr Griff war erstaunlich kräftig, und die knochigen Finger hielten Manars fest umklammert. »Wenn dein Sohn in Ain Chock war, solltest du es besser nicht wissen.«

14
Afghanistan 2002
    Knapp drei Stunden, hatte Kat sich gesagt, als sie Camp Viper durchquerte. Sie wusste genau, wie wenig Zeit ihr blieb. Wenn sie sich beeilte, könnte sie noch duschen, bevor sie ins britische Lager ging. Nach einer

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