Verschärftes Verhör
aber hier können wir nicht bleiben. Das ist der erste Ort, an dem Kurtz suchen wird.«
Als der Name fiel, wurde Jamal blass.
Kat stand auf und streckte den Arm aus, um ihm aufzuhelfen, doch der Junge rührte sich nicht. Stattdessen griff er in die Hosentasche, holte einen Fetzen Papier heraus und hielt ihn ihr hin.
»Was ist das?« Sie entfaltete den Zettel, der anscheinend aus einem Buch herausgerissen worden war. Acht fettgedruckte Buchstaben: ES KEPLER. Und darunter eine hingekritzelte Telefonnummer in den USA.
»Mr Harry«, sagte Jamal. »Er wird uns helfen. Das hat er gesagt.«
Eine Vorwahl im Norden von Virginia. »Wer ist Mr Harry?«
»Aus Madrid. Vor Mr Justin.« Er machte eine ermutigende Handbewegung. »Wir können ihn anrufen.«
Kat schüttelte den Kopf. »Nein, Jamal, das ist keine gute Idee.«
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er nicht mit sich reden lassen würde. »Wir rufen Mr Harry an«, sagte er mit untypischer Entschlossenheit. »Oder du gehst ohne mich.« Dann kam die Retourkutsche. »Du musst mir vertrauen.«
Virginia
Nach sechs unerträglichen Monaten in den Staaten hatte man Harry schließlich nach Kinshasa versetzt. Zurück in eine gottverlassene Gegend, doch er war froh darüber gewesen. Er hätte jeden Ort der Welt einem Schreibtisch in Langley vorgezogen.
Irene war das genaue Gegenteil von Susan. Ein Mädchen aus dem Süden mit einem aristokratischen Virginia-Akzent und der Anstecknadel ihrer Studentinnenverbindung am Revers. Kappa Kappa Gamma, Sweet Briar College. Die Tochter eines Kongressabgeordneten, die einen Anflug von Abenteuerlust mit einem Job im Auslandsdienst befriedigte, bevor sie sich irgendwo niederließ. Sie war keine Jungfrau mehr gewesen, aber sehr unerfahren. Sie mochte noch immer kein Licht beim Sex und zog sich einmal im Monat diskret zurück. Irene war immer frisch geduscht, perfekt zurechtgemacht und duftete nach Lilien und Flieder.
Als sie sich auf einer Halloween-Party in der Botschaft kennenlernten, hatte Harry das rosa Twinset und den Faltenrock für ein Kostüm gehalten. Erst als er Irene einige Tage später in der Cafeteria begegnete, begriff er, dass sie sich immer so kleidete.
Wenn er mit ihr zusammen war, kam es ihm vor, als hätte es nie einen Vietnamkrieg und das Debakel zu Hause gegeben, als hätte ein Studentenaustausch und nicht einer von Kissingers schmutzigen Kriegen sie beide nach Afrika geführt.
Er hatte sich nicht in den Menschen Irene verliebt, sondern in die Illusion, die sie ihm bot.
Es war fast drei Uhr morgens, als das Telefon neben dem Bett klingelte. Harry fuhr aus einem ungewöhnlich angenehmen Traum auf, in dem er und Char in eine weitläufige Villa in den Kona Hills gezogen waren und ihr neues Heim einweihten, indem sie in jedem der vielen Zimmer Sex hatten.
Das Aufwachen an sich war nicht so schlimm, wohl aber sein Kater. Auf dem Rückweg zum Motel hatte er sich eine Flasche billigen Wodka gekauft, wohl wissend, dass er es am nächsten Morgen bereuen würde. Auch wenn es streng genommen noch nicht Morgen war, spürte er, dass seine Sorge berechtigt war.
Er tastete im Dunkeln nach dem Telefon und stieß dabei die Wodkaflasche um, worauf der Rest in den Teppich sickerte. Vom Geruch wurde ihm schlecht.
Endlich hatte er den Hörer gefunden. »Hallo?«
»Ich bin es.« Irene.
»Hör mal, du musst das nicht tun. Ich verstehe –«
Sie unterbrach ihn. »Er hat angerufen.« Ihre Stimme klang erregt, wie elektrisiert.
Sie steht darauf, dachte Harry, genau wie alle anderen. Man hatte ihnen so viel beigebracht über die Schwächen der Menschen, über Geld, Schamgefühl und Sex, doch all das war nichts im Vergleich zur Macht, dem Gefühl, als Insider nach außen zu blicken.
»Er ist in Casablanca«, fuhr Irene fort. »Im Hotel des Amis in der Medina. Ich habe gesagt, du würdest kommen.«
Harry wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Sie werden Fragen stellen. Sag Morrow, ich hätte dich dazu gezwungen. Ich hätte dir gedroht.«
»Vor Morrow habe ich keine Angst«, entgegnete Irene. Ach nein?, dachte Harry. Das solltest du aber. Er sprach es nicht aus.
Dann herrschte langes Schweigen. Sie wollten nicht auflegen, wussten aber auch nichts mehr zu sagen.
»Es tut mir leid«, sagte Harry schließlich.
»Das muss es nicht«, erwiderte Irene.
26
»Ich glaube, Sie müssen jetzt kommen.«
Es war sechs Uhr morgens, und Marinas Stimme ertönte wie ein Weckruf. Die Worte waren zweideutig, aber es war
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