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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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klar, was sie damit meinte. Morrow sprang sofort auf, zog Schuhe und Jacke über.
    Als er auf dem Weg nach Georgetown die Key Bridge überquerte, war es taghell, ein Morgen wie aus dem Bilderbuch. Unten auf dem Potomac glitt ein einzelnes Skull geschmeidig flussaufwärts. Der Ruderer bewegte sich präzise wie eine Maschine. Ausholen, eintauchen. Ausholen, eintauchen. Die Beine bewegten sich vor und zurück, die Hände überkreuzten sich und lösten sich voneinander. Aus der Ferne wirkte sein Körper geschlechtslos, völlig verwandelt von der absoluten Konzentration auf seine Aufgabe.
    Es wird Zeit, Dick, hörte er Susan sagen. Er erinnerte sich an einen anderen Morgen wie diesen, eine andere überstürzte Fahrt. Sie lag Jahre zurück, und doch war der Morgen ihm in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben. Susans Kleid: rot mit gelben Blumen. Das Haar zu einem ordentlichen Knoten gesteckt. Das Gesicht voller als sonst, weich geworden durch die Schwangerschaft.
    Die Erinnerung war so lebhaft, dass er fast damit rechnete, sie in der Einfahrt warten zu sehen, genau wie an jenem Tag, den roten Lederkoffer in der Hand, die andere Hand auf ihren Bauch. Wie sie gelacht hatte, als er aus dem Auto gesprungen war. Mit offenem Mund, den Kopf zurückgeworfen.
    Doch an diesem Morgen begrüßte ihn niemand. Morrow bog in die Einfahrt und blieb mit der Hand am Schlüssel im Mercedes sitzen. Er brachte es nicht über sich, den Motor auszuschalten und ins Haus zu gehen.
    Nachdem mindestens eine halbe Stunde vergangen war, öffnete sich die Seitentür, und Marina erschien in Hausmantel und abgenutzten blauen Frotteeschlappen, das Haar wie immer unter einem Tuch verborgen. Sie hatte seit Wochen nicht richtig geschlafen und sah entsprechend erschöpft aus.
    Sie kam die Stufen herunter bis ans offene Seitenfenster. »Genau wie der andere«, sagte sie kopfschüttelnd. »Der hat sich auch nicht reingetraut.« Sie griff in den Wagen, legte ihre Hand über Morrows und schaltete den Motor aus. Fast berührten sich ihre Gesichter. Ihr Geruch füllte den Wagen aus. Sie roch ungewaschen, nach Schweiß, nasser Wolle und gekochtem Fleisch. Es schien ihr ureigener, angeborener Geruch zu sein.
    Morrow wollte fragen, was sie mit der Bemerkung gemeint hatte, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
    »Keine Sorge«, sagte Marina. »Sie hat gerade ihr Morphium bekommen. Sie brauchen nicht mit ihr zu sprechen.« Dann ließ sie seine Hand los und ging triumphierend davon.
Marokko
    Während ihrer Geheimdienstausbildung hatte Kat einen Kurs namens »Spiele« belegt. Das Seminar war ebenso legendär wie der Dozent, ein verschrumpelter Großvater, dessen starker slowakischer Akzent und die grelle Tätowierung am Unterarm von einer Vergangenheit zeugten, über die er niemals sprach. Kat und die anderen Studenten nannten ihn einfach nur Yoda.
    Der Titel des Seminars passte genau zum Inhalt. Drei Stunden täglich kämpften Kat und die anderen mit scheinbar unlösbaren Rätseln, während Yoda zuschaute, selten einmal anerkennend grunzte oder, was häufiger vorkam, missbilligend mit der Zunge schnalzte.
    Seine liebsten und zugleich schwierigsten Herausforderungen waren dreidimensionale Holzpuzzle, die zu bestimmten Formen zusammengesetzt werden mussten. Das Schwierige war, dass es nur eine Lösung gab, bei der alle Teile Verwendung fanden.
    »Denken Sie daran«, pflegte Yoda zu sagen, wenn er durch den Raum lief, die Ärmel trotz der drückenden Hitze demonstrativ hinuntergerollt. »Jedes Teil an seinen Platz, sogar jene, die aussehen, als würden sie nicht passen.«
    Der alte Mann war kurz nach Kats Examen gestorben, und »Spiele« wurde nicht länger angeboten. Mehr als einmal hatte Kat jedoch gehört, wie Kollegen, die lange nach ihr studiert hatten, seinen Lieblingssatz benutzten.
    Jedes Teil an seinen Platz, dachte sie. Es war früher Nachmittag. Sie saß am Fenster des Hotels und schaute in die enge Gasse hinunter, in der sich die Fußgänger drängten – Hausfrauen beim täglichen Einkauf und Touristen, die auf das Schnäppchen hofften, das niemals kam. Jamal schlief hinter ihr im einzigen Bett und bewegte sich dann und wann in rastlosen Träumen. Sie wusste noch immer nicht, was sie von seinem Mr Harry halten sollte, doch ihre Chancen waren so gering, dass sie bereit war, sich auf das Urteilsvermögen des Jungen zu verlassen. Was blieb ihr auch anderes übrig?
    Unten in der Gasse tauchte ein Europäer auf. Er sah Kurtz vom Körperbau her so ähnlich, dass

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