Verschieden - ein Mira-Valensky-Krimi
Er nimmt mich zart an den Hüften, dreht mich zu sich um, ich sehe die Stehlampe mit ihrem gelben Licht, das auf ein hohes Bücherregal scheint, sein Gesicht kommt näher, ich spüre mein Herz schlagen und spüre seine Hände, ich schließe die Augen. Er küsst mich voller Hingabe, und ich will es wohl auch, wer fragt nach später. Aber irgendwie kommt es anders, es passt nicht, und das hat nichts mit moralischen Bedenken zu tun, zumindest noch nicht. Sein Kuss schmeckt falsch … bemüht. Vielleicht passen auch bloß sein Mund und mein Mund nicht zusammen, unsere Zungen kollidieren, statt dass sie einander umschmeicheln. Er scheint es nicht zu merken, flüstert etwas, das ich nicht verstehen kann, seinen Mund noch immer auf meinem. Ich will etwas Luft holen, aber das wäre wohl unhöflich.
Seine Hände fingern meinen Körper entlang, nicht gierig, aber auch nicht befreit. Irgendwie läuft hier etwas völlig verkehrt, trotzdem streichle ich seinen Rücken, gute Muskeln, denke ich nicht besonders romantisch, ob er auch joggen geht?
Er stöhnt leise und versucht mir das T-Shirt nach oben zu schieben. Ich will nicht, kann nicht anders und zucke ein wenig zurück.
»Kalt?«, fragt er mit belegter Stimme.
Wie komme ich hier ohne Drama raus? Ich gebe zu, ich hätte es wohl passieren lassen, bloß: Nichts passt, und wenn ich mir jetzt schon vorstellen kann, wie peinlich es hinterher ist … Dabei ist er doch so ein netter Typ.
»Ich glaube, ich muss heim«, sage ich und denke, er muss mich für eine total dumme Gans halten.
»Du solltest bleiben«, sagt er nahe an meinem Ohr, seine Stimme klingt wirklich gut, viel versprechend, vielleicht war es seine Stimme, die mich gefangen hat. Er hält meine Worte offenbar nur für so eine Art spätmädchenhafter Schüchternheit und Zurückhaltung, er muss mich eben noch etwas umwerben, tatscht wieder auf meinem Bauch herum und will mich wieder küssen.
»Es ist spät«, sage ich laut und dämlich.
Jetzt hat er es kapiert und rückt von mir ab. »Entschuldigung«, sagt er seltsam tonlos, und ich versuche zu lachen und sage, dass es ein wunderschöner Abend war, aber jetzt …
Es ist eine Flucht zur Tür, hinaus auf die Straße, zum Auto. Ich drehe mich nicht um, will nicht sehen, ob er mir nachschaut, denke mir: Mira, du hast dich benommen wie eine Idiotin. Andererseits: Hätte ich mit ihm schlafen müssen, nur um mich nicht zu blamieren? Verlangt es inzwischen die Konvention, ab einem gewissen Punkt jedenfalls mitzumachen?
Frauen dürfen Männern erst gar keine Hoffnungen machen, hat mir meine Mutter immer wieder eingetrichtert. Erst jetzt frage ich mich, woher sie diese Erfahrung hatte? Oder hat sie es auch bloß von ihrer Mutter gehört? Außerdem hasse ich solche Verallgemeinerungen, »die Männer«, »die Frauen«. Ich habe mir doch auch Hoffnungen gemacht, zumindest auf ein paar schöne Momente, irgendwie. Ohne zu viel nachzudenken. Muss man immer denken? Schon im Vorhinein an später und an alles, was kommen könnte?
Ich fahre Richtung Wohnung. Es hat einfach nicht gepasst. Punkt. Und vielleicht werde ich ja doch nicht nur älter, sondern auch klüger, tröste ich mich. Lieber ein – fast – rechtzeitiger peinlicher Abgang als mühsames Herumgeturne, nur weil man als prüde oder zickig gelten könnte, wenn man um vier in der Nacht im Haus eines Mannes nach dem ersten Kuss doch noch Nein sagt. Ich brauche den seltsamen Nachgeschmack nicht beim Sichwiederanziehen, wenn man sich überlegt, ob man einander wiedersehen wird, ob man verliebt ist, ob er verliebt ist, warum es passiert ist, ob es wichtig ist oder auch unwichtig sein darf und was das für Auswirkungen aufs bisherige und aufs zukünftige Leben hat. Vielleicht bin ich auch bloß bequem geworden. Ich gleite durch die Nacht und denke, damals in der Karibik, da hat es eine Nacht am Strand gegeben, da hat alles gepasst und nichts war peinlich. – Neige ich etwa zu One-Night-Stands? Glaube ich nicht. Wie war es eigentlich beim ersten Mal mit Oskar? Den hab eher ich verführt als umgekehrt, aber eine gewisse Vertrautheit, die war von Anfang an da. Oskar … Beinahe hätte ich ihn betrogen, und es war nicht Rücksichtnahme auf ihn, die mich … Ich sollte ihn dringend heiraten. Und bevor ich wieder einmal spontan in einen Unbekannten irgendetwas hineinromantisiere, sollte ich an diese Nacht denken. Dabei ist es Bruno gegenüber unfair. Er ist sehr nett. Und ein großartiger Gesprächspartner. Kein Wunder, wenn er
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