Verschleppt
im Leben für sich getroffen hat.«
Da war was dran. In Maiers Akte reihte sich ein Straftatbestand an den nächsten. Auch schwere Delikte fehlten nicht. Gut möglich, dass er ein gefährlicher Irrer war. Ein mordlustiger Psychopath. In dem Fall brachte sie sich selbst und Flint in Gefahr, wenn sie sich ihm zu erkennen gab. Dass Maier eine Freundin hatte, die ihm anscheinend etwas bedeutete, hatte nämlich nicht das Geringste zu sagen. Es gab eine Menge Rohlinge, Serienmörder und Vergewaltiger, die auf den ersten Blick ein normales Leben zu führen schienen, die zum Beispiel ordentlich verheiratet waren und sogar Kinder hatten.
Je länger man diesen Job machte, desto schwerer wurde es, in anderen Menschen das Gute zu sehen. Dass es dergleichen überhaupt gab, wurde mit der Zeit eher eine Art Glauben, so wie man an Wiedergeburt glauben konnte oder daran, dass es angeblich eine heilsame Wirkung hatte, Bäume zu umarmen.
Inzwischen aber wusste sie, dass ihre Sorge überflüssig gewesen war. Dass Sil Maier durchaus in der Lage war, etwas für andere Menschen zu empfinden. Sie hatte das Grauen, die Angst und den Schmerz in seinen Augen gesehen, als sie Susan auf dieser dreckigen Matratze gefunden hatten, festgebunden, zusammengekrümmt und mit frischen Blutspuren auf der nackten Haut. Die Liebe und Zärtlichkeit, die er ihr entgegengebracht hatte, konnten nicht gespielt sein. Die waren echt.
Und er war nicht verrückt. Sil Maiers Grenzen waren weniger schnell überschritten als die des Durchschnittsbürgers, aber er taugte was. Tief in seinem Innern und auf eine vielleicht etwas verzerrte Art und Weise war er ein guter Mensch. Das genügte Joyce.
Es war an der Zeit, mit offenen Karten zu spielen.
»Sil Maier ist mein Bruder«, sagte sie schließlich. Als Susan nicht reagierte, sondern sie bloß atemlos anstarrte, fügte sie hinzu: »Aber das weiß er noch nicht. Ich habe es ihm noch nicht erzählt.«
»Unglaublich«, flüsterte Susan. Sie sah Joyce stirnrunzelnd an. »Du siehst ihm nicht einmal … ich meine, du bist …«
»Schwarz. Ja. Ist mir auch schon aufgefallen.« Unwillkürlich trat ein Lächeln auf Joyce’ Lippen. »Meine Mutter ist aus Surinam.«
»Sil hat eine Schwester«, flüsterte Susan, als käme die Tragweite dieser Eröffnung ihr erst allmählich zu Bewusstsein.
»Streng genommen sind wir Halbgeschwister. Wir haben denselben Vater. Maier sieht ihm übrigens ziemlich ähnlich.«
»Und er weiß nichts davon?«
»Wer?«
»Sil.«
»Nein. Ich habe es ihm noch nicht erzählt.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Joyce strich sich mit der Hand über den Mund, suchte nach der richtigen Formulierung. »Weil ich am Anfang nicht wusste, woran ich mit ihm war. Sein Lebenslauf ist, gelinde gesagt, nicht gerade eine Empfehlung.«
»Und jetzt weißt du, woran du mit ihm bist?«
»Ich denke schon, ja.«
»Was weißt du über Sil? Was steht in dieser Akte eigentlich drin?«
»Bestimmt nicht alles. Aber genug, um daraus schließen zu können, wie er an sein Geld kommt. Nämlich auf eine Weise, die verstehen lässt, warum ein paar sehr gefährliche Leute sehr wütend auf ihn sind.«
Susan schüttelte den Kopf. Die Missbilligung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Da täuschst du dich. Er hat seine Firma verkauft, schon vor Jahren. Da hat er einen fetten Gewinn gemacht. Das kannst du leicht überprüfen.«
» Das Geld meinte ich nicht.«
Susan wandte den Blick von Joyce ab. Sagte nichts.
Joyce hatte jahrelange Erfahrung mit Verhören von Kriminellen jeglicher Couleur und von deren Partnern. Sonst hätte sie vielleicht gedacht, dass Susan von nichts wusste, über Sil Maiers Aktivitäten nicht informiert war.
Susans Loyalität war fast schon ergreifend. Sie nahm Maier in Schutz. Trotz allem.
»Du musst ihn sehr lieben«, sagte Joyce leise.
»Ihn lieben?« Susan reagierte gereizt. »Ich habe ihm den Tod gewünscht, da, in diesem Bordell.«
»Und jetzt?«
»Jetzt? Nichts. Du tust so, als ob wir ein Paar wären, aber das waren wir schon nicht mehr, bevor dieses ganze Elend angefangen hat. Er ist gegangen und hat nichts mehr von sich hören lassen.«
»Er hat dich da herausgeholt.«
»Ja, und?«
»Du hättest ihn sehen sollen, als er hörte, dass du in Gefahr bist. Du bist sein Ein und Alles, er liebt dich. Ich werde richtig neidisch, wenn ich sehe, wie er dich anschaut. Einen Mann emotional so stark an mich zu binden, das habe ich nie geschafft.«
»Joyce, du kennst ihn seit einer Woche.
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