Verschleppt
im Blick zu behalten, was nebenan vor sich ging, er konnte hören, was dort gesprochen wurde und von wem. Das Appartement stand leer und war sehr spärlich möbliert – wahrscheinlich mit Sachen, die der letzte Besitzer nicht hatte mitnehmen wollen. Ein Schlafsofa mit violettem Bezug stand an einer psychedelisch grün tapezierten Wand neben einer altmodischen Lampe mit Stoffschirm. Vor dem Wohnzimmerfenster hing ein schiefes Rollo, und auf dem Boden lag ein schmutziger Teppich.
Hinter ihm, in der offenen Küche, starrten zwei Augenpaare leblos an die Decke. Das eine gehörte einem pickligen, eins neunzig großen Jungen mit gelb gefärbten Haaren. Die anderen Augen, heller in der Farbe, aber ebenso gebrochen und tot, umrandet von schwarzer Wimperntusche und Eyeliner, waren versunken in einem totenblassen Mädchengesicht.
Die beiden lagen schön ordentlich nebeneinander auf dem Rücken. Ein aufgeschnittener Müllsack unter ihren Köpfen fing zum größten Teil das Blut auf, das aus ihren durchtrennten Kehlen triefte.
Wadim hatte die beiden schon wieder vergessen. Susans Hausjunkie und dessen Freundin waren nicht wichtig. Bevor ihre Körper zu stinken anfingen und die Nachbarn sich bei der Gemeindeverwaltung beschwerten, wäre er längst über alle Berge.
Wadim hatte Maier sofort registriert, als dieser zum ersten Mal unten auf der Straße aufgetaucht war, halb unter seiner Kapuze abgetaucht, mit Augen, die ständig hin und her flitzten, um die kleinste Bewegung ja nicht zu verpassen.
Er wusste auf Anhieb, dass es Maier war, spürte das Wiedererkennen geradezu körperlich: Sämtliche Muskeln in Bauch und Brust zogen sich zusammen, als er in seinem Blickfeld auftauchte. Wadim musste sich beherrschen, um nicht sofort nach seinem Scharfschützengewehr zu greifen und das Arschloch aus der Entfernung abzuknallen. Ein oder zwei Schüsse, und Maier würde nie wieder aufstehen.
Aber das hatte Wadim nicht getan. Es wäre zu einfach gewesen, hätte ihm zu wenig Genugtuung verschafft.
Eine knappe Viertelstunde später war Maier zurückgekommen, aber nun von der anderen Seite, und hatte noch einmal in ruhigem Tempo die Straße sondiert. Wadim hatte sich auf eine Konfrontation vorbereitet. Maier konnte nun jederzeit hochkommen. Doch die Zielperson hatte noch nicht einmal Anstalten dazu gemacht, als diese beiden Junkies die Treppe erklommen und vor Susans Wohnungstür angefangen hatten, albern kichernd aneinander herumzufummeln.
Ein typischer Fall von zur falschen Zeit am falschen Ort.
Wadim schloss die Augen. Angespannt lauschte er, sog jedes einzelne Wort in sich auf, jeden Seufzer, jeden Atemzug, den seine Apparatur registrierte.
Susan braucht dich.
Es geht ihr nicht gut.
Es war Maier gewesen, der dieses Blutbad angerichtet hatte. Letztlich war es doch wieder Maier gewesen. In den drei Leichensäcken, die aus dem Haus getragen worden waren, hatten folglich die Körper von Maxim Kalojew, Ilja und Pawel gesteckt.
Wahrscheinlich gehörte auch Robby Faro zu Maiers Opfern. Was bedeutete, dass er ihnen schon länger auf der Spur war. Schon viel länger. Nicht schlecht. Würde Wadim seinen Gegner nicht von ganzem Herzen hassen, er müsste ihm Respekt zollen.
Aber wie auch immer – er würde noch früh genug Antworten auf seine Fragen bekommen.
Das Telefongespräch war zu Ende.
Maier legte den Hörer auf und pfiff tonlos durch die Zähne. Jeanny würde versuchen, für heute oder morgen einen Flug nach Amsterdam zu bekommen. Er hatte ihr seine Handynummer gegeben. Sobald sie Genaueres wusste, würde sie ihn anrufen, um durchzugeben, wann er sie vom Flughafen Schiphol abholen konnte.
Dass Susans Mutter in die Niederlande zurückkehrte, war eine positive Nachricht. Es würde Susan bestimmt guttun.
Außerdem bekam er dann bald die Hände und den Kopf frei. Er hatte tagelang in diesem Motelzimmer herumgehangen, unfähig, konstruktiv nachzudenken. Wenn er Susan nicht mehr unmittelbar vor Augen hatte, konnte er sich bestimmt besser konzentrieren. Dann würde das Schuldgefühl weniger an ihm nagen.
Während er zum Schlafzimmer zurückging, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte zu fragen, ob Sabine ihr Baby schon zur Welt gebracht hatte. Das musste er dann später nachholen.
Er suchte Susans Jacke, ein paar Hosen und Pullover, eine Strickjacke und verschiedene T-Shirts zusammen. Die Socken vergaß er in der Eile, erinnerte sich aber noch daran, dass sie ihren Bademantel haben wollte. Er faltete ihn und presste den
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