Verschleppt
gelogen hatte, aber sie wollte es trotzdem auch von Susan hören. Es war wichtig.
»Er hat sich als Wadim vorgestellt.«
Joyce nickte fast unmerklich. »Das stimmt. Er sucht Sil.«
»Er sucht ihn?«
Joyce nickte noch einmal, diesmal etwas deutlicher.
»Er ist also nicht tot?«
»Wir haben keine Ahnung, wo er ist.« Weil sie nicht wollte, dass Susan sich noch mehr Sorgen machte, fügte sie schnell hinzu: »Aber Maxim Kalojew und Ilja Makarow sind tot.«
»Ich habe die Schüsse gehört«, sagte Susan mit zittriger Stimme. »Keinen Augenblick hätte ich an Sil gedacht. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich war total … leer. Fertig.«
Joyce drückte sanft ihre Hand. Sie dachte an den heiklen Augenblick zurück, als sie auf dem Boden gelegen und, Maxims Fuß im Rücken, den ersten Schuss gehört hatte. Sie war überzeugt gewesen, dass sie auf der Stelle erschossen werden würde. Dass Maxim eine Pistole hervorgezogen hatte und ihr ohne Zögern eine Kugel in den Hinterkopf jagen würde. Eine volle Sekunde später begriff sie, dass sie unversehrt war, dass der Schuss von unten gekommen war. Dann ein enormer Aufruhr, der wie eine Schallwelle die Treppe herauftoste: kreischende Frauen, wütendes Gebrüll, Gepolter. Maxim nahm den Fuß von ihrem Rücken, und plötzlich kapierte sie, dass Maier das Zeichen nicht abgewartet hatte. Sie langte nach der kleinen Walther in ihrem Wadenholster und umklammerte die Waffe. Maxim kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen. Mit letzter Kraft hatte sie fünf Kugeln auf ihn abgefeuert, wild drauflos.
»Mit Ilja hat Sil abgerechnet«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Ich habe Maxim übernommen. Vier Schüsse in den Körper, einen in den Kopf. Der wird niemandem mehr was antun.«
»Da war so eine Frau. Olga. Mit roten Haaren. Sie hat sich um mich gekümmert. Hast du sie gesehen?«
Joyce dachte nach. Sie hatte insgesamt vier Frauen gezählt. Eine blonde, zwei dunkelhaarige und in der Tat auch eine mit ziemlich kurzen, rot gefärbten Haaren.
»Kurze Haare?«
»Ja.«
»Die war unten, bei den anderen Frauen.«
»Was wird jetzt aus ihnen?«
»Das entscheiden sie wahrscheinlich selbst. Als später am Abend meine Kollegen dort aufgekreuzt sind, waren sie alle weg. Sie sind geflüchtet.«
Zum ersten Mal sah Joyce ein Lächeln auf Susans Gesicht.
Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick drauf. Nichts. Sie steckte das Ding zurück.
»Möchtest du noch etwas trinken, Susan?«
»Nein, danke.«
»Etwas essen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab genug gegessen.«
»Soll ich dich schlafen lassen? Die Vorhänge zumachen?«
»Nicht nötig, ich tu jetzt doch kein Auge zu.« Sie ließ eine kurze Pause entstehen. »Lebt euer Vater eigentlich noch?«, fragte sie dann.
»Ja.«
»Wo denn?«
»In Südfrankreich, in der Provence. Maier war bei ihm, als ich ihn letzte Woche aufgespürt habe.«
Die Information musste Susan erst mal verdauen. Einige Minuten war sie still. Im Flüsterton sagte sie dann: »Er hat also seinen Vater gefunden.«
Es war ein laut ausgesprochener Gedanke, ein Einblick in das, was in ihr vorging. Ein Teil von Susan freute sich aufrichtig für ihn, wusste Joyce. Ein anderer Teil war bemüht, die Nachricht bloß als trockenes Faktum aufzufassen.
»Was ist das für ein Mann?«
»Er heißt Silvester Flint. Maier ist sein erstes Kind, ich bin das zweite. Und ich darf hoffen, dass er es dabei belassen hat.«
»Ist er Franzose?«
»Nein, von Geburt ist er Amerikaner, aber er lebt seit den sechziger Jahren in Europa. Er hat als amerikanischer Soldat seinen Wehrdienst hier geleistet und Europa nie mehr den Rücken gekehrt.«
»Was macht er denn in der Provence? Ist er reich?«
»Nicht direkt. Er wohnt im retraite der Fremdenlegion. Dort hat er zwanzig Jahre lang gedient.«
Susan schüttelte erstaunt den Kopf. »Wow« , war ihre erste Reaktion, »die Fremdenlegion …« Sie suchte Joyce’ Blick. »Gehen da nicht Leute hin, die in ihrem eigenen Land gesucht werden, weil sie dann eine neue Identität bekommen?«
Joyce grinste. »Nicht alle kriegen eine neue Identität. Und nicht alle haben eine solche Vergangenheit. Wahrscheinlich brauchte er eine Struktur. Das Leben bot ihm zu viele Möglichkeiten, und er war ausgesprochen talentiert darin, sich von zahllosen Möglichkeiten immer die erbärmlichste auszusuchen. Also hat er sich schließlich für eine Umgebung entschieden, in der ihm keine Wahl gelassen wurde. Wo man ihm das Denken abnahm.«
»Habt ihr
Weitere Kostenlose Bücher