Verschleppt
Einbruchsspuren würden sie keine finden. Dafür hatte er gesorgt. Auch keine Hinweise auf Gewaltanwendung.
Wadim konnte natürlich etwas übersehen haben – er hatte sich mit ihrer Alltagsroutine nicht gerade ausgiebig beschäftigt. Trotzdem war kaum anzunehmen, dass die Polizei innerhalb der kommenden zwei Wochen etwas unternehmen würde. Wenn doch, war es allerdings naheliegend, dass sie ihr Handy anzupeilen versuchten.
Und dann wollte er das Ding lieber nicht am Hals haben.
Big Brother war schon lange keine pechschwarze Zukunftsvision mehr. Die Zeit, in der Bürger von Behörden kontrolliert und ausgespitzelt wurden, war längst angebrochen, und es war so geräuschlos und tückisch vor sich gegangen, dass niemand dagegen protestiert hatte. In allen Städten und an den Autobahnen hingen Kameras, die alles und jeden registrierten, und wo man sich befand, konnte anhand des Handys gruselig genau festgestellt werden.
Genau deshalb arbeitete Wadim grundsätzlich mit gestohlenen Handys und anonymen Prepaid-Karten. Solche Techniken hatten sein Bruder und er bei ihrer Ausbildung nicht gelernt – Handys hatte es damals noch gar nicht gegeben –, aber in einer sich schnell verändernden Welt überlebte man in diesem Metier nur dadurch, dass man Veränderungen rasch genug mitvollzog, seine Denkgewohnheiten anpasste und die neuen Technologien auszutricksen verstand.
Niemals hatten Wadim und Juri diesen Aspekt unterschätzt. Deshalb waren sie auch dieses gnadenlos gute Team gewesen und so oft für schwierige Aufgaben eingesetzt worden.
Jetzt stand er alleine da.
Es verging kein Augenblick, da er sich dessen nicht bewusst war. Seine Ruhelosigkeit würde sich erst wieder legen, wenn Sil Maier ihm jammernd zu Füßen läge. Um das zu erreichen, war Wadim zu allem bereit.
Zu allem.
Susans Computer fuhr schön brav hoch. Das Passwort hatte er innerhalb von ein paar Minuten umschifft. Aus ihren Mails ging hervor, dass sie von Beruf Fotografin war – wie er bereits vermutet hatte. Mehrere Mails hatte sie in der letzten Zeit an eine gewisse Sabine in den USA geschickt, vermutlich ihre Schwester. Aus der Korrespondenz ließ sich schließen, dass Susan dort in den letzten Wochen zu Besuch gewesen war.
Er saß noch vor dem Bildschirm, als mit einem bescheidenen plong eine neue Mail ankam. Ein Kunde, der wissen wollte, ob die Fotos gelungen waren und Susan die Adresse eines Servers zum Heraufladen der Bilder mitteilte.
Wadim presste die Fingerspitzen aneinander und hob sie an die Lippen. Nein. Er wagte es nicht. Anhand von ein paar früheren Mails an ihren Auftraggeber hätte er zwar ein paar Sätze zusammenbasteln können, aber um glaubwürdig den Eindruck eines Muttersprachlers zu erwecken – dazu reichte sein Niederländisch nicht. Lieber keine Reaktion als eine verdächtige.
Auch in ihrem Mailadressbuch stand weder ein »Maier« noch ein »Sil«. Wadim ließ das Programm den Inhalt sämtlicher Nachrichten im Posteingang auf Vor- und Nachnamen durchsuchen. »Maier« ergab keine Treffer, »Sil« schon.
Er sortierte die gefundenen Nachrichten nach dem Datum und fing bei der neuesten zu lesen an. Gelegentlich schaute er auf die Uhr oder spitzte die Ohren, weil er irgendeinen Laut von draußen vernommen hatte. Wenn jemand hineinkam, würde es Komplikationen geben. Weil die Wohnung unbedingt sauber bleiben musste, würde er mit einem eventuellen Besucher dasselbe tun müssen wie mit Susan: ihm eine Waffe an die Schläfe halten, in geballter Form verbale Gewalt einsetzen, um ihn zu überwältigen, ihn dazu zwingen, mit dem Auto in eine einsame Gegend zu fahren. Und dem Betreffenden Hoffnungen machen, damit er nicht allzu sehr in Panik geriete.
Nur würde dieser Unglückliche die einsame Gegend nicht mehr verlassen.
Wadims Hand glitt zu seinem Knöchel, wo mit Klettband ein Revolver befestigt war. Er kratzte an der Haut unter dem Verschluss. Das Klettband hatte bei der über die gesamte Länge des Schienbeins verlaufenden Narbe zu einer Hautreizung geführt.
Schon bald gab er es auf, die einzelnen Nachrichten zu lesen, und scrollte immer gleich zum Namen des Absenders hinunter.
Endlich wurde er fündig: mehrere Mails, die alle von der gleichen Absenderadresse aus verschickt und konsequent mit Sil unterzeichnet waren. Nachdem er ein paar gelesen hatte, war Wadim überzeugt, dass die Mailadresse, die mit »sagittarius« anfing, Sil Maier gehörte. Um hundertprozentig sicherzugehen, kontrollierte er auch Susans
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