Verschleppt
Mädchen in Russland oder Rumänien von der eigenen Familie verkauft, an Frauenhändler. Frauen wie diese mit dem Aktenzeichen KEO3.4693 hatten kein Zuhause, keine Hoffnung und keine Zukunft. Sie waren die unsichtbaren Sklaven des einundzwanzigsten Jahrhunderts, deren Schicksal niemanden kümmerte. Die Todesangst hatten vor ihren Eigentümern. Und zu Recht.
NDR NF VLGT stand unter dem Bild – nadere info volgt, weitere Informationen folgen. Foto und Nachricht stammten von »Dennis«, einem der festen Informanten. Im Lauf der Woche würde er wahrscheinlich noch einen Bericht im Telegrammstil schicken, der weitere Details enthielte: Ankunftsdatum, Herkunftsland, Alter, vielleicht einen Namen.
Die konnte Joyce dann alle ordentlich mit dem Foto zusammen abheften.
Die Frau auf dem nächsten Bild war halb nackt, und ihr Blick war glasig. Joyce konnte diese Bilder noch so oft vor sich haben – niemals würde sie sich daran gewöhnen oder zynische, gemeine Witze darüber reißen wie ihre Kollegen. Eher im Gegenteil.
Je mehr Einblick sie in diese hinter verschlossenen Türen stattfindenden Schweinereien gewann, desto kämpferischer und wütender wurde sie, weil sie wusste, dass hinter jedem dieser Fotos mehr Leid und Schmerz steckte, als man sich vorstellen konnte. Und niemand war in der Lage, diesen Frauen zu helfen.
Warum gerade deren Schicksal ihr so nahe ging, wusste Joyce auch nicht genau. Sie selbst hatte eine schöne Jugend in einer glücklichen, harmonischen Familie durchlebt. Sie war nie misshandelt oder zu irgendetwas gezwungen worden, und ihre Eltern waren beide noch am Leben. Wahrscheinlich war es ihr biographischer Hintergrund, dachte sie. Ihre Vorfahren waren aus ihrer Heimat Surinam verschleppt und in der Fremde zur Sklaverei gezwungen worden, genau wie diese Mädchen. Obwohl zu Hause wenig davon die Rede gewesen war, trug Joyce dieses Bewusstsein in ihren Genen. Und in ihrem Nachnamen: Landveld. Als die Sklaven 1863 in die Freiheit entlassen wurden, bekamen sie ihre Familiennamen nämlich von den weißen Unterdrückern zugewiesen. Die dachten sie sich keineswegs selbst aus.
Sie jagte eine Heftklammer durch das Papier, rammte zwei Löcher in den Rand und heftete es in einer der Mappen ab.
Morgen hatten Jim und sie beide frei. Er hatte gesagt, er wollte gleich nach der Arbeit mit ihr in die Stadt, etwas trinken gehen und es richtig spät werden lassen. Jim hatte im Krankenhaus genauso unregelmäßige Dienste wie sie. Sie sahen einander viel zu selten. Außerdem gab es etwas Besonderes zu feiern: Ihre Beziehung dauerte jetzt schon sechs Monate. Zum ersten Mal hielt es ein Mann so lang bei ihr aus. Ohnehin konnte sich Jim durchaus rühmen, eine Engelsgeduld zu haben. Nur selten hatte sie ihn bisher richtig ausrasten sehen, obwohl sie es oft genug zu provozieren versuchte. Weiß Gott, ziemlich oft.
Aber nach diesen Fotos hatte sie keine Lust mehr auszugehen. Sie wollte bloß noch nach Hause, die Vorhänge zuziehen und so tun, als gäbe es keine Außenwelt.
Als gäbe es keine Opfer und keine Täter.
Von allen denkbaren Reaktionen, die ihr in den Sinn kamen, war dies noch die vernünftigste.
19
Er hatte sich in einem Hotelzimmer einquartiert. Ein ziemlich kleiner Raum mit violettem Fußboden, violett, lila und blau gestreiften Vorhängen und einem modernen Bett, dessen Überdecke in denselben Farben gehalten war. Direkt unter der Decke an der Wand hing ein Fernseher. Auf dem eingestellten niederländischen Sender lief gerade eine Art Quiz, die Teilnehmer mussten Wörter mit sechs Buchstaben bilden.
Wadim verfolgte die Sendung mit Interesse. Bei der Speznas hatte er unter anderem Deutsch gelernt. Niederländisch war zwar ziemlich ähnlich, hatte aber ganz eigene Laute und grammatische Regeln.
Er hockte sich auf den Boden, zog sich das T-Shirt über den Kopf und warf es beiseite. Dann streckte er die Beine aus, hakte die Zehen unter die metallene Bettkante und fing an zu trainieren.
Die Mail war nicht zurückgekommen, also würde Sil Maier, wenn er das nächste Mal seine Mails checkte, zwei ziemlich unangenehme Fotos seiner Freundin zu sehen bekommen. Wadim ging davon aus, dass Maier dann sofort reagierte.
Doch bis es so weit war, blieb ihm nichts übrig, als zu warten. Mittlerweile waren bereits drei Tage vergangen, seit er die Mail verschickt hatte.
K-U-R-Z-U-M, wurde im Fernsehen buchstabiert. »Kurzum«, wiederholte Wadim laut. Er rollte sich auf den Bauch, um ein paar Liegestütze zu
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