Verschleppt
Mal. Als ihr Entführer Fotos von ihr gemacht hatte, war er jedenfalls nicht dabei gewesen.
Es klingelte, woraufhin er sie mit Robby allein ließ und auf den Flur hinausging. Sie blieb mucksmäuschenstill auf dem Sofa sitzen, in banger Erwartung. Schon bald hörte sie Männerstimmen und Gelächter, gefolgt von Schritten auf der Treppe. Ihr wurde klar, dass der Besuch nicht ihr galt.
Susan hatte fleißig die Augen offen gehalten. Die Fenster waren sowohl zur Straße als auch zum Garten hin mit Holzverschlägen verrammelt, da kam sie nicht durch. Aber wenn sie es schaffte, in den Flur zu gelangen, waren es nur noch ein paar Meter bis zur Haustür.
Die Chance dafür war allerdings gleich null.
Robby hatte es sich in einem Sessel direkt neben der Tür bequem gemacht. Seine Füße lagen auf einem Rauchglastisch. Seine forschenden Hyänenaugen ließen keine Sekunde von ihr ab. In seinem Schoß lag eine Pistole.
21
Noch eine Doppelnull zum Abheften. Von einem Informanten mit Decknamen »Charlie«. Wie Charlie genau angeworben worden war, wusste sie nicht, wohl aber, dass er bisweilen ziemlich saftige Infos aus der Unterwelt auftischte. Zu bestimmten kriminellen Kreisen in der Stadt hatte er offenbar gute Connections, was ihn als Informanten wertvoll machte.
Und jetzt kam er mit diesem Foto an. Letzte Woche in privaten Räumlichkeiten in Eindhoven aufgenommen. Ein Gesicht, aus nächster Nähe fotografiert, sodass von der unmittelbaren Umgebung fast nichts zu erkennen war. Eine weiße Frau mit vollem, glattem braunem Haar. Normaler Körperbau, gerade Nase, volle Lippen. Mandelförmige braune Augen, die nicht in die Linse, sondern woanders hinschauten und eine alarmierende Mischung aus Angst, Wut, Erschöpfung und Verletzbarkeit verrieten. »Intern« hatte jemand danebengekritzelt, was sich auf den Status der abgebildeten Frau bezog.
Das eindeutig mit einem Handy aufgenommene Bild verschlug Joyce den Atem. Sie fing plötzlich an zu zittern, und ein stechendes Kältegefühl breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Aus Angst, ihre Kollegen könnten ihre plötzliche Unruhe bemerken, schirmte sie ihr Gesicht mit den Händen ab, als würde sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Ihre Ellbogen zitterten auf der Schreibtischplatte.
Hier war etwas ziemlich faul.
Sie konnte es kaum glauben.
Dieser Frau durfte sie nicht hier, im Rahmen ihrer Arbeit begegnen, in Form eines Frust-Files. Diese Frau hatte nicht von einem zwielichtigen Informanten in einem kriminellen Bordell fotografiert zu werden. Susan Staal gehörte in die unterste Schublade eines Schranks im Wohnzimmer, zu der Akte, die sie dort zu Hause verstaut hatte und die sie seit anderthalb Jahren mit allen Puzzelteilchen füllte, die irgendwie mit ihm zu tun hatten – alles, was sie auftreiben, was sie heimlich recherchieren konnte.
Susan Staal gehörte zu Silvester Maier.
Joyce starrte das Foto an. Private Umgebung oder nicht: Diese Frau war Susan Staal. Sie wusste es genau. Das konnte nur bedeuten, dass es Schwierigkeiten gab. Große Schwierigkeiten.
Langsam schob sie das Foto auf ihrem Schreibtisch hin und her. Täuschte sie sich vielleicht? War es nicht viel naheliegender, dass da jemand Susan Staal verdammt ähnlich sah? Oder dass das Foto nur versehentlich diesem Informanten zugeschrieben wurde und die Ortsangabe gar nicht stimmte? So was passierte. Es kamen öfter mal Fehler vor.
Das Foto an sich gedrückt, ging sie zum Fotokopierer, vorbei an ihren arbeitenden Kollegen, die sich von ihren Bildschirmen und komplizierten Telefonaten keine Sekunde lang ablenken ließen, und drückte auf »Farbkopie«. Faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Niemand achtete auf sie. Sie eilte zu ihrem Schreibtisch zurück, verstaute das Originalfoto in der Akte, klappte diese zu und legte sie auf einen der bunten Stapel, die im Laufe des Vormittags auf ihrem Schreibtisch entstanden waren.
Dann zog sie die Tastatur zu sich heran. Ihre Finger flogen über die Tasten, während ihre Augen unablässig über den Bildschirm flitzten.
Das Haus lag in der Altstadt von Eindhoven. Seit 2001 befand es sich im Besitz von Maxim Kalojew, der in Odessa zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Es gab deutliche Anzeichen dafür, dass bei ihm Zwangsprostituierte arbeiteten; anscheinend unterhielt Kalojew auch Beziehungen zur russischen Unterwelt.
Auf Grund diverser Hinweise – teils von demselben Informanten, Charlie – hatte im Frühling
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