Verschleppt
machen. Übertreiben wollte er es heute Abend nicht. Muskelschmerzen waren in der Phase des Muskelaufbaus unvermeidlich, in diesem Stadium seiner Mission wären sie aber eher hinderlich gewesen. Er trainierte also gerade so viel, dass die Muskeln geschmeidig blieben und der Tonus nicht abnahm.
Dass er sich nicht langweilte.
Dass er die Unruhe, die ihn erfasst hatte, vorübergehend nicht spürte.
B-U-T-T-E-R, tönte es aus dem Fernseher. »Butter«, murmelte Wadim.
Warten stellte einen essenziellen Teil seines Lebens dar, wurde ihm bewusst. Angefangen hatte es in der desolaten Baracke, in der er mit Juri zusammen aufgewachsen war, auf einem Bauernhof im Norden Russlands. Ein weißer Fleck auf der Landkarte, fern aller modernen Einrichtungen. Jahrelang hatte der einzige Traktor auf dem Hof herumgestanden und war allmählich verrottet. Ihr Vater wartete auf eine Lieferung von Ersatzteilen. Wann immer eine Bewegung am Horizont darauf hindeutete, dass womöglich der Postbote oder ein Kurier zu ihnen unterwegs war, standen seine Eltern sehnsüchtig im Feld und hielten Ausschau, während sein Bruder und er dem Ankömmling entgegenrannten. Es war immer vergeblich gewesen.
Hoffnung machte verletzlich. Besser war es, keine Hoffnung zu haben. Das machte stark.
B-L-U-M-E-N. »Blumen.«
Nach dem Tod seiner Eltern war er mit Juri gen Süden gezogen. Sie waren damals fast siebzehn und durch nichts mehr an ihre frühere Heimat gebunden. Bei der Armee fanden sie ein Dach über dem Kopf und hatten ein Einkommen, bis die UdSSR in die Krise geriet und man ihnen ihren Sold nur noch sporadisch auszahlte. Als die Kameraden, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, allesamt anfingen, entweder gestohlene Armeewaffen zu verticken, oder sich für eine kriminelle Karriere nach Westeuropa begaben, hatten auch Juri und er sich für Letzteres entschieden.
B-O-N-B-O-N.
Wadims Muskeln reagierten schnell und geschmeidig auf die Impulse, die er ihnen sendete, aber hinter seiner Stirn wütete ein Sturm. Er hatte keine Ahnung, wie lange er noch in diesem Land herumhängen müsste. Vielleicht ein paar Wochen, womöglich ein paar Monate. Es war nicht vorauszusagen. Es war jetzt an Maier, den Ball zurückzuspielen.
D-I-R-E-K-T.
Das Telefon klingelte. Wadim sprang auf, drückte sich kurz ein Handtuch an die Stirn und hängte es sich dann um den Hals. Er stellte den Fernseher leise und klappte sein Mobiltelefon auf.
»Da?«
»Wadim, bist du’s?«
Er konnte es nicht ausstehen, am Telefon mit Namen angesprochen zu werden, also reagierte er mit einem verärgerten »Hm-hm.«
» Zdraste . Wie lange müssen wir diese bl’ad noch hier festhalten?«
Wadim zögerte kurz. »Das wird sich zeigen.«
»Äh … das wird ein bisschen schwierig. Wir brauchen den Raum. Und außerdem macht sie zu viel Lärm. Die Kunden fangen schon an, Fragen zu stellen. Ich glaube, es wäre besser, wenn …«
»Hör zu«, schnitt er dem anderen kurzerhand das Wort ab, »du machst gar nichts, verstanden? Ich komme morgen vorbei.« Er klappte sein Handy zu.
G-E-W-A-L-T, buchstabierte einer der Kandidaten auf der Mattscheibe.
Wadim grinste freudlos.
20
Susan hatte eine Campingmatratze bekommen, sodass ihr reichlich strapazierter Hüftknochen und die Schulter nicht mehr direkt auf dem harten Boden auflagen. Es gab noch weitere Verbesserungen: Nachdem sie das letzte Mal verhört worden war, hatte man ihr den Sack nicht wieder über den Kopf gezogen, und sie bekam nun auch täglich zu trinken und zu essen. Einen Schokoriegel, ein Omelett oder ein Sandwich.
Der Riesenkerl mit den stechenden Augen und der hohen Stirn war fürs Catering zuständig. Er warf ihr das Essen von der Tür aus zu, meistens so, dass es gerade noch in ihrer Reichweite landete. Dann schaute er zu, wie sie es mühsam zu sich heranzog, manchmal mit den Zähnen, manchmal mit der Zunge, und es vom Boden aß, wie eine Katze, die an einem großen Stück Fleisch frisst. Mit perversem Interesse verfolgte er den Fortgang; es machte ihm sichtlich Spaß zuzusehen, wie sie sich abmühte. Manchmal lag das Essen ein Stück zu weit entfernt, sodass sie es trotz minutenlanger Anstrengung nicht erreichen konnte. Dann kam er spöttisch auf sie zugeschlendert und schob es ihr mit dem Schuh etwas näher hin.
Anfangs hatte sie das ihr zugeworfene Essen noch ignoriert. Ihr Wächter hatte stets eine Weile stumm gewartet, aber regelmäßig auf die Uhr gesehen, als käme es dabei auf die Zeit an. Irgendwann hatte er
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