Verschleppt
Tatsache, dass keiner sich die Mühe machte, Maßnahmen zu ergreifen, um später nicht von ihr wiedererkannt zu werden, war vielsagend: Es deutete nämlich darauf hin, dass man nicht vorhatte, sie lebend wieder freizulassen.
Dass sie noch lebte, konnte also nur daran liegen, dass sie sie noch brauchten. Sie diente als Lockvogel für Sil, der ebenfalls ermordet werden sollte. Oder sie wurde als Druckmittel benutzt, um ihn dazu zu bewegen, irgendein schmutziges Geschäft sauber abzuhandeln. Vielleicht auch beides. Von ihrer klammen Matratze aus konnte sie lediglich darüber rätseln.
Ihre Chancen, gerettet zu werden, standen jedenfalls schlecht. Ganz vielleicht würde Reno sie vermissen, aber selbst wenn – er würde sich nicht weiter darum kümmern. Es war schließlich schon öfter vorgekommen, dass sie einen Eilauftrag bekommen hatte und dann plötzlich eine Woche von zu Hause fort gewesen war. Er würde gar nicht auf die Idee kommen, sich deshalb Sorgen zu machen, geschweige denn, irgendetwas zu unternehmen.
Ihre Mutter und Sabine wurden mittlerweile vielleicht ein bisschen unruhig oder fanden es zumindest sonderbar, dass sie nicht ans Telefon ging. Sabine wusste von nichts, aber Jeanny war über Sils Verbindungen im Bilde, und sie war nicht naiv. Jeanny war die Einzige, die möglicherweise begriff, dass Susan in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.
Aber was nützte es? Und wenn die halbe Welt sich nach ihr auf die Suche machte – es wusste ja niemand, wo sie war. Sie wusste es selbst nicht einmal. In welcher Stadt, in welcher Straße. Sie kannte lediglich dieses Zimmer. Das allerdings hätte sie mit geschlossenen Augen aufmalen können.
Es war ein relativ kleiner Raum, höchstens vier mal fünf Meter, mit hoher Decke, an der zwei dreckige Neonröhren hingen. Sie tauchten die spartanische Einrichtung in ein hartes, industrielles Licht. Auf dem Boden lag Linoleum mit einem roten Fliesenmotiv, das anscheinend schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. An den Wänden hingen moosgrüne Tapeten.
Das Fenster, unter dem ihre Matratze lag, war schwarz gestrichen. Öffnen ließ es sich auch nicht, die Scharniere fehlten. Und an der Tür fehlte die Klinke. Der graue Anstrich war ziemlich ramponiert, vor allem auf Kniehöhe, als wäre mit Gewalt dagegengetreten worden. In der Ecke links neben der Tür stand eine Kloschüssel. Weiß, ohne Brille, mit einem tiefhängenden Wasserreservoir und Metallbügeln zu beiden Seiten, wie man sie von Behindertentoiletten kennt. Daneben hing ein Spiegel, der das kleine Doppelbett reflektierte. Dieses hatte Stäbe an Kopf- und Fußende und eine hubbelige, unbezogene Matratze. Das Bett war seitlich an die Wand geschoben.
Ein säuerlicher, verdorbener Geruch hing im Raum. Zigarettenrauch, Schweiß, Urin und Angst. Vor allem stank es nach Angst. Wenn sie hier sterben würde, würde niemand etwas davon mitbekommen. Nicht einmal sie selbst wüsste, wo sie ihre letzten Tage zugebracht hätte.
Der Einzige, der dergleichen herausfinden konnte, war Sil. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Sil noch gar keine Ahnung hatte.
Vielleicht wusste er bloß, dass sie ihn suchten, und war geflohen. Dann konnte er jetzt in Neapel sei. Am Südpol. In Chile. Oder in Finsterwalde. Wenn Sil nicht gefunden werden wollte, dann wurde er auch nicht gefunden.
Wie viel Zeit blieb ihr eigentlich noch? Dass sie eine Matratze bekommen hatte sowie zu essen und zu trinken, bedeutete womöglich, dass ihre Gefangenschaft länger dauern würde, als ihr Entführer ursprünglich geplant hatte. Was immer sie von Sil wollten, es lief anscheinend nicht nach Plan.
Sie war von ihren Gedanken so besetzt, dass sie die Schritte auf dem Flur kaum wahrnahm. Die Tür wurde aufgeschlossen, und Wadim kam herein.
Er sah erregt aus, reizbar. Instinktiv schlug sie die Augen nieder.
»Ich hab da was gehört über dich.« Er sprach Englisch, und seine Stimme klang aufgeregt. Mit ein paar Schritten stand er bei ihrer Matratze. »Falsche Dinge.«
Falsche Dinge? Sie konnte sich nicht mal auf die andere Seite rollen. Sie konnte sich verdammt noch mal kaum bewegen. Noch immer waren ihre Hand- und Fußgelenke auf dem Rücken aneinandergebunden.
Susan hätte vor Frust laut aufschreien mögen, tat es aber nicht, sondern schloss die Augen und versuchte zu schlucken. Vor lauter Angst fingen ihre Beine unkontrolliert zu zittern an.
Er ging in die Hocke und umklammerte ihren Kiefer. »Sieh mich an, wenn
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