Verschleppt
Nachricht war leer, hatte aber zwei Anhänge von etwa 1 MB. Sie klickte auf den ersten.
Mit einem lauten Knall fiel ihr Stuhl um. Sie krallte sich an der Tischplatte aus Teakholz fest. Klickte schnell auf das zweite Foto. Das sah genauso aus. Eine Variation desselben Themas.
Susan lag in einer unbequemen Haltung am Boden, gefesselt, die Arme hinter dem Rücken. Es war deutlich zu erkennen, dass ihre Hand- und Fußgelenke aneinandergebunden und mit Kabelbindern am Heizkörper festgezurrt waren. Susan Staal, an die Heizung gekettet. Wirre Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn, und ihre dunklen Augen schauten in Todesfurcht hoch. Neben ihrem Kopf ragten zwei braune Turnschuhe ins Bild: die Füße desjenigen, der das Foto machte.
Die Aufnahme wirkte so bedrohlich, dass es Joyce durch Mark und Bein fuhr.
»Scheiße«, brachte sie bloß heraus. Sie ging um den Tisch herum, als wäre der Laptop ein lebendes Wesen, das jeden Augenblick zum Angriff übergehen konnte. Schloss die Augen, um das Foto nicht anschauen zu müssen. »Du bist gemeint, Maier«, murmelte sie. »Verdammt, es geht um dich. Was zum Teufel hast du ihnen getan? Weißt du hiervon überhaupt?«
Sie schaute wieder auf das Foto. Vor vier Tagen war es verschickt worden. Aber wann mochte es entstanden sein?
Sie mussten bei Kalojew eine Razzia durchführen. Jetzt sofort, heute noch. Wenn sie Thieu klarmachen konnte, dass in dem Gebäude eine Frau als Geisel festgehalten und misshandelt wurde, konnte Susan schon in anderthalb Stunden frei sein. Schließlich befand sie sich dort nicht aus denselben Gründen wie die Mädchen aus dem früheren Ostblock, die von ihren Kollegen oft abfällig »Importhuren« genannt wurden. Der Grund, weshalb Susan dort festgehalten, womöglich sogar gefoltert wurde, war weit bedrohlicher. Die Mail an Maier zeigte deutlich, dass es um etwas Persönliches ging. Susan befand sich in Lebensgefahr.
Jetzt unverzüglich einzugreifen, würde für ihre Einheit noch einen anderen Vorteil bedeuten: So konnten sie den Patzer vom Frühling ausgleichen. Susan war nicht eine unsichere Russin oder Rumänin, sondern eine mündige Niederländerin, die in diesem Land zu Hause war. Da konnten Maxim und seine Freunde einpacken.
Sie griff zum Telefon. Dann aber erstarrten ihre Finger auf den Wähltasten. Brachte sie Sil damit nicht in Schwierigkeiten? Schließlich war die Mail an ihn adressiert. Bisher war er den Augen der Justiz stets verborgen geblieben.
Frustriert strich sie sich durchs Haar. Nicht nur Maier würde ins Visier der Fahnder geraten. Auch sie selbst. Thieu würde wissen wollen, wo sie ihre Informationen herhatte. Dann würde sie ihm erklären müssen, warum sie die Mailadresse und das Passwort von Silvester Maier kannte, warum sie von Zeit zu Zeit seine Mails las. Und warum sie überhaupt so viel wusste über ihn und seine Freundin, also über Personen, denen sie nie begegnet war und gegen die auch kein Verdacht vorlag.
Sie legte das Telefon wieder hin. Starrte auf den Bildschirm ihres Laptops.
Das Bild von Susan war verschwunden. Auf dem flachen Monitor war jetzt ein silberner Goldfisch erschienen – Elton, dem Handbuch zufolge –, der ziellos zwischen Wasserpflanzen schaukelte, die genauso digital und leblos waren wie er selbst. Trotzdem sah er ziemlich echt aus, sogar dermaßen echt, dass sie manchmal mit ihm redete. Elton war ein treuer Freund. Er tratschte nie etwas aus, darauf konnte sie sich verlassen.
Starr blickte sie auf den Schirm, schaute den ruhigen Bewegungen von Eltons durchsichtigen Flossen und den im virtuellen Wasser aufsteigenden Luftblasen zu.
Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche und schrieb eine kurze SMS.
LIEBER JIM, ESSEN KLAPPT NICHT, ÜBERSTUNDEN.
GRUSS + KUSS!
»Du Lügnerin«, sagte sie laut zu sich selbst. Dann drückte sie auf »Senden«.
24
Es war nichts weiter geschehen, nachdem sie gestern aus dem Raum herausgeholt worden war. Robby hatte sie zurückgebracht, ihr das Tape vom Mund gerissen und sie mit roher Gewalt wieder an der Heizung festgebunden. Mit einer obszönen Geste hatte er sich verabschiedet.
Sie war nicht vergewaltigt, nicht zum Arbeiten gezwungen und auch nicht ermordet worden. Aus purer Erleichterung hatte sie kurz geweint, aber erst nachdem die Schritte auf der Treppe verhallt waren.
Lang währte die Erleichterung nicht. Während sie auf die abblätternde grüne Tapete in ihrer Zelle starrte, wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage immer bewusster. Die
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