Verschleppt
ausgebreitet.
»Ich glaube, ich bin krank.« Betreten nahm sie die Serviette an, die eine Kollegin ihr hinhielt, und putzte sich die Nase. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Verdammt.«
Niemand von den Kollegen lachte.
Nancy gab ihr eine weitere Serviette. »Demnächst kommt die Entscheidung, nicht wahr? Ob du zurückkannst oder nicht.«
Sie nickte.
»Vielleicht ist das ja eine nervöse Reaktion. Könnte ich mir gut vorstellen. Mich würde das auch total verrückt machen.«
Du ahnst nicht, wie verrückt ich wirklich bin. »Das ist eher eine Grippe, glaube ich.« Sie schnäuzte sich noch einmal die Nase.
»Willst du nicht lieber nach Hause gehen?«, fragte José. »Ein paar Tage unter die Bettdecke?«
»Ist vielleicht besser.«
Joyce legte die Mappe auf den Esszimmertisch und klappte sie auf. Strich die Farbkopie glatt und legte sie daneben. Sie verfügte über verschiedene Daten von Susan Staal: Adresse, Kontonummer, Bankverbindung, Autokennzeichen, Kreditkartennummern, Username und Passwort ihres Mailaccounts. Zusammengenommen eine stattliche Menge an relevanter Informationen, die teils im Internet, teils in Bank-, Versicherungs- und Regierungsdatenbanken zu finden gewesen waren.
Nur ein einziges Mal hatte sie Susan leibhaftig gesehen. Sie hatte der Versuchung schlichtweg nicht widerstehen können und wissen wollen, wer die Frau war, mit der Maier einen so intensiven Mailkontakt unterhalten und schließlich ein Verhältnis angefangen hatte. Eines Mittags hatte sie in einer Kneipe, nicht weit von Susans Wohnung entfernt, Beobachtungsposten bezogen. In den zwanzig Sekunden, die Susan zum Überqueren der Straße brauchte, speicherte Joyce eine Personenbeschreibung in ihrem Hinterkopf ab. Nur ein echtes Foto hatte ihrer Akte noch gefehlt. Bis heute.
Sie strich mit den Fingerspitzen über das glatte Papier der Fotokopie. Nach wie vor war ihr die Sache unbegreiflich. Was war da los? Was machte Susan in Eindhoven? Und dann auch noch in einem verdammten Bordell? Seit sie sich auf der Arbeit krank gemeldet hatte und nach Hause gegangen war, hatten diese Fragen sie keine Sekunde mehr losgelassen.
Ob Silvester – seinen Mails zufolge nannte er sich Sil –wusste, dass seine Freundin sich dort befand? Er war schon seit ein paar Tagen außer Landes. Das entnahm sie den Auszügen seiner Visa-Karte, die sie erst letzte Woche noch kontrolliert hatte. Es hatte Bezahlvorgänge in Belgien und in Nordfrankreich gegeben, und anscheinend war er allein unterwegs. Die Tatsache, dass er seine Kreditkarte überhaupt benutzte, deutete darauf hin, dass er weder etwas Illegales vorhatte noch davon ausging, jemand könnte ihm folgen oder ihn suchen.
Hatten die beiden sich getrennt? Sie stellte sich vor, wie daraufhin beide geflüchtet waren: er im wortwörtlichen Sinne, indem er in sein Auto gestiegen und weggefahren war; sie, indem sie angefangen hatte, in einem Bordell zu arbeiten, in einer fremden Stadt, vierzig Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. In fünfzehn Jahren bei der Kripo hatte Joyce mitbekommen, dass Leute nach einer Trennung noch zu ganz anderen Dingen in der Lage waren. Mit weit schlimmeren Folgen.
Allerdings hatte gerade dieses Bordell einen gewissen Ruf. Erst kürzlich hatte dort eine Razzia stattgefunden. Aber die kriminelle Bande, die den Laden führte, war zu gerissen, um sich überführen zu lassen.
Joyce konzentrierte sich auf das Foto. Diese Augen … dieser Zug um die Mundwinkel.
Angst. Das war schlichtweg Angst.
»Halluziniere ich jetzt vielleicht?«, fragte sie das Foto. »Bin ich jetzt tatsächlich verrückt geworden? Oder habe ich recht? Hast du Angst?«
Susan schaute unverwandt an der Linse vorbei.
Joyce schob die Mappe zur Seite, zog ihren Laptop zu sich heran und rief die Hotmailseite auf. Tippte Sils Mailadresse und sein Passwort ein. Ungefähr vor anderthalb Jahren hatte ein Hacker, der die Arbeit ihrer Einheit gelegentlich unterstützte, diese Daten für sie herausbekommen. Diesen Tag würde sie nie vergessen. Es war der erste Riss im Fundament ihrer Zuverlässigkeit als Beamtin im Staatsdienst. Solche Dinge durfte sie nicht tun. Maiers Privatleben ging sie nichts an.
Aber sie hatte unbedingt mehr über ihn erfahren wollen. Und ihn beeinträchtigte es schließlich nicht.
Drei neue Mails waren angekommen, die er anscheinend noch nicht gelesen hatte. Eine vom Dienstanbieter, ein Newsletter irgendeiner Rockband und schließlich eine Mail von Susan, die sie sofort öffnete. Die
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