Verschleppt
»S. Staal« und das Copyright-Zeichen. Keine Jahreszahl.
Er ging in Susans Arbeitszimmer und schaltete den Computer aus. Ihr Auftraggeber hatte ziemlich schnell aufgegeben. Zwei Mails hatte der Kunde geschickt: Erst hatte er ihr die Adresse des Servers mitgeteilt, auf den sie die Fotos hätte hochladen sollen; vier Tage später hatte er sie wissen lassen, dass sie sich die Mühe sparen konnte. Außerdem war eine Mail von ihrer Mutter gekommen, aus den Vereinigten Staaten. Eine lange Mail, lauter Geschwätz, das er nur halb gelesen hatte. Im Anhang ein paar Fotos von einem Säugling.
In einer Mappe hatte er Susans Login-Daten und Passwörter gefunden, sodass er ihre Mails nun auch von woanders aus lesen konnte. Das hätte er längst tun sollen, aber gelegentlich in diese Wohnung einzudringen, hatte ihm einfach zu gut gefallen. Als käme er Maier dadurch ein Stück näher. Als würde er den Typen nach und nach immer besser verstehen.
Und sonst hatte er doch nichts zu tun.
Wadim ging durch die Räume und kontrollierte ein weiteres Mal sämtliche Apparaturen, die er angebracht hatte. Er wollte sichergehen, dass er nicht irgendetwas hatte herumliegen lassen, dass nirgends irgendwelche Drähte herausragten und kein ungewöhnliches Glitzern die Aufmerksamkeit auf sich zöge. Es sah durchwegs professionell aus.
Er zog die Haustür hinter sich zu und ging in die Nacht hinaus. Er war zum vorläufig letzten Mal in Susans Wohnung gewesen. Gestern hatte er gerade noch rechtzeitig verschwinden können. Der lange Typ, der aussah wie ein Junkie, hatte mit irgendeiner Tussi vor der Tür gestanden und geklingelt. Wadim hatte erst gewartet, aber als er merkte, dass sie sich anschickten, von einem Schlüssel Gebrauch zu machen, flüchtete er auf die Dachterrasse. Er sah die beiden ins Wohnzimmer kommen und mit den Mündern nacheinander schnappen, als wären sie die ausschließliche Sauerstoffquelle füreinander. Dieser Typ machte sich über Susans Wohlergehen jedenfalls keine großen Sorgen. Der schien eher froh, dass sie sich verpisst hatte.
Eigentlich schien ihr Verschwinden überhaupt niemanden zu beunruhigen.
Auch Maier nicht.
Es herrschte eine ohrenbetäubende Stille an der Front. Maier hatte auf die Fotos nicht reagiert, obwohl die doch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen.
Nach dem Verschicken hatte Wadim ihm eigentlich einen Monat Zeit lassen wollen. Jetzt fragte er sich, ob ein Monat nicht doch zu lang war. Zehn Tage waren verstrichen. Obwohl seine Arbeit jetzt größtenteils aus Abwarten bestand, fiel sie ihm schwerer als sonst.
Vielleicht musste er ein bisschen dicker auftragen.
Indem er zum Beispiel in Susans Wohnung eine Leiche hinterließ.
Oder zwei.
35
Maier fand sich Punkt neun Uhr morgens beim acceuil des Anwesens ein. Es fiel ein leichter Regen. Der Gipfel des Mont Sainte Victoire lag hinter einem grauen Nebelschleier verborgen. Bei dem finsteren Wetter wirkte das Landgut ganz anders. Grau in grau, genau wie seine Bewohner. Daran änderten auch die vielen hellen Stimmen nichts, die zwischen den alten Gebäuden widerhallten. Hand in Hand liefen Kinder über das Gelände, eine Schulklasse, geführt von einer kleinen, dunkelhaarigen Frau, die ihre Schützlinge mit gestikulierenden Armen in schnellem Französisch zur Eile antrieb.
Er schaute der kleinen Gruppe hinterher, die den Weg zur fermette , zu dem kleinen Bauernhaus, einschlug.
Maier gefiel es gar nicht, dass dieselben beiden Veteranen wie gestern vor die Tür kamen, um sich seiner anzunehmen.
»Ah, da sind Sie ja wieder.« Der Kleine lächelte, nickte und streckte die Hand aus. Der andere musterte ihn lediglich, wortlos. »Der Urlaubsreisende.«
Maiers Blick wanderte vom einen zum anderen.
»Solche gibt’s hier ja öfter«, ergänzte der Lange. Er triefte nur so von Zynismus.
Angesichts des listigen beziehungsweise kühlen Blicks des französischsprachigen Belgiers und des Deutschen, der keinen Kehlkopf mehr hatte – oder aus sonstigen Gründen nicht normal sprechen konnte –, wäre Maier eine weitere Lüge über das Motiv für seinen Besuch lächerlich vorgekommen. Sie hatten ihm gestern nicht geglaubt, und sie würden es heute genauso wenig tun.
»Nein«, sagte er auf Deutsch, »ich bin hier nicht im Urlaub.« Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. »Ich suche Flint … S. H. Flint.«
Die beiden Männer nickten, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatten, wechselten einen vielsagenden Blick und
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