Verschleppt
ruhten.
Niemand brauchte Maier zu erklären, in welcher Beziehung er zu diesem Mann stand. Das erkannte er beim Blick in dessen Augen sofort. Dasselbe Blau. Flints Haar war grau und dünn, aber seine kantigen, dunklen Brauen hatten von ihrem Pigment noch fast nichts verloren: Sie waren beinahe schwarz, genau wie Maiers. Der Mann hatte auch dieselben harten Züge und markanten Wangenknochen. Eine gerade Nase. Dieselben breiten Gelenke und langen, knochigen Hände.
Maier kam keinen Schritt näher, sondern blieb wie angewurzelt stehen. Er begann auf den Innenseiten seiner Wangen herumzukauen, unfähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen.
Er hätte auf diese Situation vorbereitet sein müssen. Das Zusammentreffen hatte sich schließlich bereits angekündigt, als er zum ersten Mal mit dem Namen Flint konfrontiert worden war. Er hatte es durchaus geahnt. Genau deshalb hatte er es ursprünglich so eilig gehabt, nach Puyloubier zu kommen, war dann aber in Oberaudorf hängen geblieben, mit Martha aus der Schweiz als Alibi und erfüllt von Angst, dass die Begegnung auf eine Enttäuschung hinauslaufen könnte.
Er hatte Zweifel gehabt. Ständig. Jetzt zweifelte er nicht mehr. Hier lag der Mann, dessen Abwesenheit ein Loch in sein Leben gerissen hatte. Der zur Hälfte für Maiers Gene verantwortlich war und offenbar für den Löwenanteil seiner äußeren Erscheinung.
Ein Fremdenlegionär. Ein Veteran.
Maier hatte vorher nicht einschätzen können, wie er wohl reagieren würde. Er hatte sich ausgemalt, wie die Situation sein und was er dabei empfinden würde. Hatte sich mögliche Gefühle vorgestellt. Gleichgültigkeit. Wut. Neugier.
Tatsächlich passierte jetzt überhaupt nichts. Doch ließ diese Begegnung ihn keineswegs kalt. Sein Herz raste im Brustkorb, und er versuchte zu erfassen, wer der alte Kerl in diesem Stahlbett war und was das für ihn bedeutete.
»Dein Kommen ist mir telefonisch angekündigt worden, von der Münchener Polizei«, hörte er Flint sagen. Er sprach fließend Deutsch, mit leichtem Akzent. »Du hast Eindruck hinterlassen … ein unerträglicher Fatzke, dieser Hesselbach. Er hätte dir meinen Namen und die Adresse natürlich ruhig geben können.«
»Er ist mir auf die Nerven gefallen.«
»Mir auch.« Flint fixierte einen Punkt an der Wand.
Maier trat näher. »War er sehr schlimm zugerichtet?«
»Interessiert dich das?«
Maier zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich.«
»Geht so, glaube ich. Nichts, was nicht innerhalb eines Monats oder so verheilt. Aber die Polizei wird das eine oder andere von dir wissen wollen.«
»Die müssen dann wohl warten.« Am Fenster stand ein Sessel. Maier war unschlüssig. Sollte er sich dort hinsetzen? Oder auf die Bettkante? Er beschloss, stehen zu bleiben.
»Hauptsache, du bist jetzt hier.«
Maier entdeckte weitere Gemeinsamkeiten. Und minimale Unterschiede. Flint hatte so gut wie keine Ohrläppchen. Seine Ohren gingen ohne deutliche Abgrenzung in die dicke, lederartige Haut des Kopfes über. »Ich hörte, du bist krank.«
»Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.«
Maier zog den Sessel zu sich heran und nahm Platz. »Warum nicht?«
Flint sah ihn eindringlich an. »Ich bin froh, dass du da bist, Junge.«
»Obwohl du dich nicht besonders darum bemüht hast, mich zu finden.« Das war ihm herausgerutscht, ohne dass er darüber nachgedacht hatte.
»Doch, das habe ich. Ich habe dir oft Briefe geschickt. Frag deine Großmutter.« Flint blickte auf. »Lebt sie eigentlich noch?«
»Nein.«
»Das tut mir leid. Vor Kurzem gestorben?«
Er schüttelte den Kopf. »Ist schon etwas länger her. Als ich achtzehn war.« Irgendwie fühlte er sich von der Situation dazu gedrängt hinzuzufügen: »Als ich bei der Armee war.«
Flint hob die Brauen. »Bei der Armee?«
»Wehrdienst, sechzehn Monate.«
»Als was?«
»Sergeant, Mörser.«
Kurz trat ein Lächeln auf das Gesicht des Alten. »Sergeant … gut.« Dann sah er Maier wieder mit festem Blick an. »Aber du bist nicht dabeigeblieben?«
»Nein.«
Er nickte kurz. »Sogar noch besser.«
»Du sagtest, du hättest geschrieben?«
»Ich habe dir Briefe geschickt. Sie kamen nicht zurück, also hoffte ich, dass du sie zu lesen bekämst. Hätte es wohl besser wissen müssen. Deine Großmutter hat mich gehasst.« Er sah Maier kurz an. »Dazu hatte sie auch allen Grund. Gebe ich zu. Ich war kein netter junger Mann damals. War ich nie. Sie wollte dich schützen, nehme ich an. Und da tat sie gut
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