Verschleppt
dran.«
Maier dachte wieder an seine angeblichen Onkel, diese furchtbaren, von Elend und Aussichtslosigkeit triefenden Typen, die er so gehasst hatte und die seine Mutter umschwirrt hatten wie lästige Fliegen. »War meine Mutter ein Flittchen für dich?«
Die Augen des Alten leuchteten auf. »Nein!«, rief er entrüstet. »Weit davon entfernt. Maria war …« Er hob die Faust an den Mund und hustete laut.
Maier wandte den Blick ab. Flint war offenkundig dabei, an irgendeiner Scheißkrankheit zu krepieren. Krebs? Aids? Er fand keine Gelegenheit, danach zu fragen. Wollte es auch eigentlich gar nicht wissen. Noch nicht.
»Weißt du, ich habe in meinem Leben eine ganze Menge Dinge getan, die mir heute, da ich krank und verbraucht hier herumliege, leidtun. Und ganz oben auf dieser langen Liste steht der Name deiner Mutter. Dass ich sie habe sitzenlassen, war die größte Dummheit, die ich je begangen habe. Von jenem Augenblick an ist alles bergab gegangen. Ich habe lange niemanden mehr so lieben können. Auch mich selbst nicht. Die Liebe zu ihr, die saß wirklich tief. Und ich, ich dachte …« Seine Stimme geriet ins Stocken. »Ich langweile dich.«
»Keineswegs.«
»Nimm dir was zu trinken. Der Kühlschrank steht …«
»Ich möchte nichts.«
Flint starrte auf die Decke, fing an, daran herumzuzupfen. »Wenn du hier nur so herumliegst, tagein, tagaus, mit dem Wissen, dass dir nicht viel Zeit bleibt, und niemand kommt zu Besuch, dann fängst du an, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Zumindest hast du mehr Zeit, als dir lieb ist, zum Nachdenken. Und in meinem Fall gibt es da vieles: Erinnerungen, Entscheidungen, die ich getroffen habe, vollkommen überzeugt, dass ich das Richtige tat, dass ich mich für mich selbst entschied, während ich in Wirklichkeit die größten Dummheiten beging … ich hätte nicht fortgehen dürfen. Ich hätte bei ihr bleiben, für sie sorgen müssen.« Er hob den Blick zu Maier. »Und für dich.«
Maier schwieg und sah Flint nachdenklich an. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Die ganze Situation überfiel ihn mit derartiger Heftigkeit, dass sie ihm fast unwirklich vorkam.
»Ich habe es damals nicht gesehen«, fuhr Flint fort. »Ich hätte es wissen können, spüren müssen, dass es vom Davonlaufen auch nicht besser würde.«
»Woran ist meine Mutter gestorben?«, fragte Maier, um wieder Boden unter die Füße, das Gespräch wieder in den Griff zu bekommen. »Das hat mir nie jemand erzählt.«
»Als Maria starb, war ich in Algerien.« Er blickte auf. »Ich bin erst dahintergekommen, als ich sie anrufen wollte und ihr Telefon abgeschaltet war. Über Umwege habe ich Kontakt zu deiner Großmutter in den Niederlanden aufgenommen. Zu dem Zeitpunkt war das Begräbnis und so weiter längst gewesen. Wir haben nur kurz gesprochen. Deine Großmutter war rasend vor Wut. Indem ich Maria verlassen hatte, meinte sie, hätte ich sie kaputtgemacht. Von dem Augenblick an sei sie keinen Tag mehr nüchtern gewesen. Damals war ich einfach nur wütend, ich dachte, sie wollte nur noch mal nachtreten … Aber mittlerweile glaube ich, dass man an Kummer tatsächlich sterben kann.« Flints Augen waren glasig und feucht geworden. »Das glaube ich wirklich.«
»Ich habe es gut gehabt bei ihr«, log Maier. »Es hat mir an nichts gefehlt.« Er wusste selbst nicht genau, warum er das Bedürfnis hatte, Flint zu beruhigen. Vielleicht weil es ihm schwer fiel, den Mann so von Gefühlen überwältigt zu sehen, so voller Reue, geplagt von Gewissensbissen, Scham, Schuldbewusstsein. Die Worte und Gefühle und Bilder stürzten mit der Gewalt eines Tsunami über ihn herein, und er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte.
Also erzählte Maier nicht, wie es in Wirklichkeit gewesen war, dass er als achtjähriger Junge seine Mutter tot im Bett gefunden hatte. Es war zu schwer, als dass er es mit diesem Mann hätte besprechen können. Und zu früh, um den Versuch zu wagen.
Es gelang ihm nicht mehr, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Die Erinnerung daran, wie er seine Mutter gefunden hatte, kalt, starr und blass – leichenblass –, drängte sich ihm auf. Er hatte geschrien. In einem fort, hysterisch, bis seine Kehle rau und seine Stimme heiser und brüchig gewesen war.
Nach dem Begräbnis hatte seine Oma, die er kaum gekannt hatte, ihn in ein fremdes Land mitgenommen, dessen Sprache er nicht beherrschte. Schon das Hasenbergl war nicht gerade Utopia gewesen, und das Utrecht der
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