Verschleppt
reisen.«
»Geh nicht weg!«
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie kam mit einem Eimer wieder, halb voll mit dampfendem Wasser, und einem rosa Handtuch sowie ein paar Waschlappen, die sie sich unter den linken Arm geklemmt hatte. Sie ließ die Sachen neben Susans Matratze und trippelte wieder auf den Flur hinaus, um kurz darauf mit einem Stapel Kleidung zurückzukommen. Sorgfältig schloss sie die Tür und kniete sich hin.
»Ich heiße Olga«, sagte sie. »Du brauchst mir deinen Namen nicht zu sagen, wenn du nicht willst. Ich muss dich gleich ausziehen. Deine Sachen sind dreckig.«
Susan schüttelte den Kopf. »Das möchte ich nicht.«
»Doch, doch. Lass mich mal machen. Vertrau mir.«
»Weißt du, wohin sie mich bringen?«
»Nein, tut mir leid.«
Auf dem Flur hörte Susan Füße scharren. Angespannt blickte sie zur Tür.
»Das ist Ilja.«
»Ilja?«
»Der Mann, der dir dein Essen bringt.«
»Der heißt doch Robby.«
»Nein, der dir jetzt dein Essen bringt, heißt Ilja. Robby ist tot.«
Susan machte große Augen. »Tot?«
»Ermordet. Erschossen.«
Susans Herz machte hinter ihren Rippen einen Sprung. Unwillkürlich musste sie sofort an Maier denken.
Ob er …? Allein schon der Gedanke gab ihr einen Teil ihrer Energie zurück – aber vielleicht, so dachte sie im selben Augenblick, war es auch einfach Hoffnung. Laborrattenhoffnung.
»Ich muss deine Arme losmachen, sonst kann ich dir die Jacke und so weiter nicht ausziehen. Versuch bitte nicht, mir irgendwas anzutun, Ilja wartet auf dem Flur, bis wir hier fertig sind. In Ordnung?« Leise flüsternd fügte sie hinzu: »Ich habe mein Bestes getan, damit er draußen vor der Tür bleibt, also benimm dich jetzt, bitte. Zu deinem eigenen Besten.«
Susan hatte Olga kaum zugehört. »Wer hat Robby ermordet? Weiß man das?«
Olga zog Susan die Socken aus und stopfte sie in eine Mülltüte. »Nein, das weiß niemand. Sie fürchten sogar, die Polizei könnte kommen, um uns darüber auszufragen. Aber sie haben keine Ahnung, wer es gewesen ist.«
»Ist das der Grund, weshalb ich weg soll?«
»Das weiß ich nicht.« Olga zog ein Küchenmesser zwischen den Klamotten hervor, beugte sich über Susan, stützte das eine Knie auf der Matratze ab und begann, die Plastikfesseln durchzuschneiden. Einige Sekunden später konnte Susan zum ersten Mal seit Langem wieder ihre Arme bewegen. Sie holte sie hinter dem Rücken hervor, betrachtete ihre Hände und Gelenke, hielt sie sich nahe vor das Gesicht, streckte und dehnte die Finger. Die Handgelenke wiesen tiefe Abdrücke auf, violettfarbene Striemen. An manchen Stellen war Schorf abgeplatzt, und frisches, hellrotes Blut quoll hervor.
Die veränderte Körperhaltung linderte die Schmerzen nicht, im Gegenteil, die Muskeln und Sehnen in ihren Armen taten höllisch weh. Tränen traten ihr in die Augen. Sie ließ die Arme neben sich auf die Matratze sinken.
»Der Schmerz lässt mit der Zeit nach«, sagte Olga, während sie den Reißverschluss von Susans Jacke aufmachte und ihr erst den einen, dann den anderen Ärmel vom Arm streifte. »Ich war auch schon an dem Punkt, wo ich dachte, ich müsste sterben oder würde zumindest dauerhaft verkrüppelt sein nach all den Tritten und Schlägen. Oder dass sie in mir drin alles kaputt gemacht hätten. Das dachten wir übrigens alle schon mal. Aber man hält viel mehr aus, als man glaubt. Man erweitert nach und nach die eigenen Grenzen. Notgedrungen.«
»In dir drin …«, wiederholte Susan schaudernd.
Die Frau setzte eine düstere Miene auf und schwieg. Versuchte vorsichtig, Susans Jeans aufzuknöpfen, die feucht und steif war. »Meine Nägel …«, sagte sie. Dann etwas, was Susan nicht verstand.
»Bist du Russin?«
»Ja, ich komme aus Naro-Fominsk. Das ist nicht weit von Moskau.« Ein angestrengtes Knurren. »Ha! Jetzt hab ich’s.« Sie zog Susan die Hose herunter und verzog das Gesicht. »Ich mache das erst mal sauber, in Ordnung?«
Beschämt schlug Susan die Augen nieder. Sie hatte keine Gelegenheit bekommen zu duschen. In den ersten Tagen hatte man sie nicht mal auf die Toilette gelassen, und sie trug noch immer dieselben Klamotten, in denen sie bei sich zu Hause im Flur überwältigt worden war. Vor Jahren war sie mal in Paris gewesen, und in der Metro hatte sich ein Penner neben sie gesetzt. Ein Typ mit grauem, verfilztem Haar, der verschiedene Pullover und Jacken übereinandergetragen hatte. Ihr war von dem penetranten Gestank, den dieser Clochard verströmt hatte, ganz
Weitere Kostenlose Bücher