Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
doch hatte er sich diesmal verrechnet.
Er bemerkte sofort, dass mit der Elefantenkuh, die ihn mit aufgestellten Ohren laut
trompetend angriff, etwas nicht stimmte. Dieses Tier meinte es ernst! Alan rannte
zum Bus zurück und schwang sich hinter das Steuerrad. Er hatte nicht bemerkt, dass
auch Angie ausgestiegen war, um hinter dem Wagen versteckt zu fotografieren.
Er legte
den Rückwärtsgang ein und gab Gas, sein Blick nur auf den angreifenden Elefanten
konzentriert. Als er ihren Schrei hörte, war es schon zu spät. Angie war auf der
Stelle tot. Er hatte sie überfahren und mitgeschleift. Man hatte ihm nach diesem
Vorfall die Lizenz für sein Unternehmen entzogen. Nur durch die Zeugenaussagen der
anderen Touristen war er dem Gefängnis entgangen. Aber die Sache hatte ihn finanziell
und psychisch ruiniert. Sie hatten ihn den Todesfahrer der Mara genannt.
Sie hatten
ihm seine Lizenz als Safarifahrer entzogen, er hatte seinen Toyota verkauft und
war für 4 Wochen nach Westafrika gegangen, um Angie zu vergessen. In Nigeria hatte
er Ulla getroffen, und sie hatte ihm geholfen. Mit ihren Küssen, ihren Zärtlichkeiten,
ihrem Körper. Mehr nicht.
Damals.
Er war nach
Kenya zurückgekehrt. An die Küste. Hatte von seinem Freund eine 17 Jahre alte Motorjacht
übernommen, zum Fangboot umgerüstet, und selbständig mit Big Game Fishing angefangen.
Ozean, Küstenhotels und Marlins als Ersatz für Savanne, Lagerfeuer und Elefanten.
Die MARIN II – sein Boot, mit dem selbst gezimmerten Ausguck auf dem Kajütendach.
Er hatte dem Namen noch ein ›L‹ hinzugefügt und die Jacht so in MARLIN II umgetauft.
Er war zufrieden
gewesen mit seinem Leben. Das tiefe Blau des Indischen Ozeans, die hellbraunen Riffblöcke,
die bis an die sandige Küste reichten, die weiße Gischt der Wellen, die sich draußen
am Außenriff brachen. Das Salz auf seinen Lippen, wenn er die MARLIN II an einer
der Bruchstellen an der Riffkante auf den Pemba Channel zugesteuert hatte.
Der Fisch,
wenn er sprang. Ein Gigant der Meere. Er hatte den Weißen Hai in der Bucht von Gansbay
in Südafrika springen sehen und den Buckelwal vor Hermanus im südlichen Atlantik.
Doch kein Meeresbewohner erreichte die Anmut, Eleganz und Kraft des Großen Blauen
Marlin. Ein in metallischem Azur glitzerndes Muskelpaket von über zwei Metern Länge.
Wenn der Marlin sprang schien er das Meer zu zerteilen, wie ein Katapultgeschoss
über die Wasseroberfläche zu schießen und verspielt wie ein Delphin wieder in sein
Element zurück zu fallen.
Das Meer,
das Riff, der Marlin waren seine Welt geworden. Er hatte sie erfolgreich eingetauscht
gegen Savanne, Busch und Elefanten. Und er hatte begonnen, Angie zu vergessen.
Er war nicht
einsam. Nur allein. Allein in seiner Hütte zwischen den Luxusressorts am Diani Beach
südlich von Mombasa. Früh morgens raus mit den reichen Touristen, die unbedingt
einen Marlin bezwingen wollten, und deren Frauen in der Nacht bei ihm lagen. Manchmal.
Bis Linda
kam.
Sechs Jahre
her …
Daran dachte
er, während er sein unrasiertes Gesicht in dem gesprungenen Spiegel an der kahlen
Badezimmerwand betrachtete.
›Siehst
gar nicht so schlecht aus, für dein Alter, Alter!‹, sagte er zu sich selbst und
fuhr sich schmunzelnd über die grauen Stoppeln auf seinem Kopf. Männer werden mit
zunehmendem Alter interessant, Frauen finden graue Schläfen attraktiv. Wenn Ulla
nur noch ein halb so heißer Feger ist wie damals, landen wir im Bett, dachte er.
Spinner!
35
Linda Roloff kannte sich in der
Landeshauptstadt Baden-Württembergs ganz gut aus. Nicht nur, weil sie ihre Lehrjahre
als Journalistin bei einer der Stuttgarter Tageszeitungen absolviert hatte, sondern
weil es sie auch in ihrer Freizeit immer wieder in die Königsstraße zum Einkaufen,
aber auch ins Theater, die Oper oder die Wilhelma zog. Der zoologisch-botanische
Garten, benannt nach König Wilhelm I., war vor einigen Jahren ebenfalls Tatort eines
Verbrechens gewesen, dessen Spuren vom Tigergehege, wo man die Leiche gefunden hatte,
schließlich zu den Löwen in der kenyanischen Masai-Mara führte. Linda hatte die
Spuren verfolgt, und eine Reihe von rätselhaften Morden aufgedeckt.
Noch ein
zweites Mal war sie in Stuttgart-Bad Cannstatt auf eine Leiche gestoßen. Linda erschauderte,
als sie an die verhängnisvolle Nacht im Mai zurückdachte – im Jahr der WM in Südafrika
– als sie vor dem Stadion die Leiche des Bauingenieurs Henning Fries gefunden hatte.
Den Treffpunkt und die
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