Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
aussah, Kissen und
Decke weiß bezogen und wie in einem Sternehotel sauber auf dem Bett drapiert. Eine
kleine Kommode, auf der ein Ghettoblaster mit CD-Spieler stand, und ein zweitüriger
Wandschrank waren die einzigen anderen Möbel in dem kleinen Raum.
An der Wand
hingen zwei Poster, die nackte Frauen in eindeutigen Posen zeigten, über dem Bett
lagen auf einem schwarzen Regalbrett eine Tube mit Gleitcreme, zwei Vibratoren und
mehrere Packungen Kondome, mehr gab es nicht. Eine zweite Tür führte zu einem kleinen
WC mit Dusche, die Ablage über dem Waschbecken quoll über vor Schminkutensilien.
Linda kehrte
wieder in das Zimmer zurück und sah sich noch einmal um. Hinter dem CD-Spieler erkannte
sie einen Bilderrahmen, zog ihn hervor und hielt ihn in das Licht des Fluters. Das
Foto zeigte Hadé, eindeutig, mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Hadé schien
auf dem Bild einige Jahre jünger, das Mädchen war vielleicht vier oder fünf Jahre
alt.
Linda hörte
Schritte auf dem Flur. Sie eilte zur Tür, löschte das Licht und spähte hinaus. Die
Silhouette des Bulligen zeichnete sich düster vor den dunklen Wänden ab, sie trat
auf den Flur und hörte ihn grunzen:
»Na, hasch
gefunda? Jetzt schnell abhaua!«
»Ja«, sagte
sie, »danke!«
Sie huschte
an ihm vorbei die Treppe hinunter und war froh, als die Tür hinter ihr ins Schloss
fiel. Als sie die Straße entlang Richtung Parkhaus ging, begegnete ihr eine dunkelhäutige
Frau mit durch Bleichcreme aufgehelltem und stark geschminktem Gesicht. In ihrer
rechten Wange klaffte eine tiefe Narbe von der Form, wie Linda sie auch bei Hadé
gesehen hatte. Die Frau trug einen engen schwarzen Rock und schwarzweiße Stiefel
mit Leopardenmuster und Pfennigabsätzen. Ihrem Aussehen nach war sie mindestens
20 Jahre älter als Hadé. Die Madame?
Linda blieb
stehen und überlegte, ob sie sie ansprechen sollte. Doch wozu? Sie würde Hadé dadurch
höchstens in Schwierigkeiten bringen. Sie kramte suchend in ihrer Handtasche und
beobachtete, wie die Frau das Haus betrat, in dem Hadé wohnte.
Das musste
Madame sein! Linda war sich absolut sicher.
Welche Macht
hatte diese Frau, welchen Einfluss? Für die nach Europa eingeschleusten Sexsklavinnen
aus Afrika war sie Herbergsmutter und Zuhälterin zugleich. Sie tröstete, versorgte,
kümmerte sich. Sie schüchterte ein, beutete aus, drohte, schlug, versklavte. Sie
holte sich das zurück, was sie als Opfer selbst verloren hatte.
Linda erschauderte.
36
Seit dem Aufbruch aus Gao achtet
jeder nur noch auf sich selbst. Akpan hat Rhissa ag Jebrim, den Tuaregführer vom
Stammesbund der Kel Adrar, mit dem Geld seiner Schützlinge bezahlt und sich mit
der Restsumme abgesetzt. Hadé und Sema wissen nicht, ob sie ihren Trolley jemals
wieder sehen werden.
Die Karawane
ist von Tag zu Tag größer und länger geworden. Immer neue Flüchtlinge sind dazu
gestoßen, und auch zwei weitere Tuareg, die nun fast 100 Menschen zu Fuß durch die
Wüste Richtung Nordosten führen. Die Tuareg sprechen nicht viel, und Hadé hat das
Gefühl, dass sie nicht viel übrig haben für die dunkelhäutigen Menschen, die sie
durch die Wüste treiben.
Ben, einer
der Männer aus Nigeria, erzählt, dass es Nomaden seien, ein Berbervolk aus der Ténéré
oder Reg, wie sie die große Geröllwüste östlich von Agadez und Tamenghest nennen.
Wie Fürsten thronen sie auf ihren Reitkamelen, die Gesichter hinter dem indigoblauen
Tagelmust versteckt, achten nicht auf die Erschöpften und Langsamen und überlassen
die Gestrauchelten ihrem Schicksal. Die Kamele der blauen Wüstenkrieger tragen volle
Kanister, aus denen genau rationiert Wasser gegen Bezahlung in die Kalebassen der
Flüchtlinge umgefüllt wird. Doch wer zu schwach ist, um zu gehen, an den wird kein
Wasser verschwendet.
Als Söhne
der Wüste wissen die Tuareg, dass wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte aus dem
langen Zug am Ende in Tamenghest ankommen wird. Die Karawane ist eine schier endlose
Kette keuchender, schwankender und leidender Menschen, die sich durch die brütende
Hitze der steinigen Trockentäler schleppen, weit von den bekannten Pisten entfernt,
die nach Al Jaza’ir, El Golea oder I-n-Salah führen. So beschwerlich ist der Weg
durch die Wadis, dass es nach Ankunft der Ersten am abendlichen Rastplatz über eine
Stunde dauert, bis auch der Letzte des Zugs sich ins Lager schleppt.
Die Wüste
kennt keine Gnade. Nicht am Tag und nicht bei Nacht. Der Himmel wölbt sich in fast
greller Blässe
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