Verschlüsselte Wahrheit - Inspektor Rebus 05
Barhockern auf dem Fußboden schlief. Das Tier nahm den Stehplatz von mindestens zwei erwachsenen Männern ein, doch niemand forderte es auf, ein wenig zu rücken. Ein Stück von ihm entfernt sah Rebus einen Mann an der Bar, der in einer Hand einen Drink hielt und die andere besitzergreifend um einen wohl gerade in einem der Secondhandläden in der Nähe erstandenen Garderobenständer gelegt hatte. Alle an der Bar tranken das gleiche dunkle Gebräu.
Obwohl es in dieser Gegend ein halbes Dutzend Pubs gab, schenkte nur das Broadsword Gibson’s vom Fass aus, da alle anderen Pubs an eine der großen Brauereien gebunden waren. Während das Bier seine Kehle hinunterrann, fragte sich Rebus, welche Wirkung es auf seinen Stoffwechsel haben würde, wenn der Organ Grinder ihn erst mal in der Mangel hatte. Er entschied sich gegen ein zweites Pint und machte sich stattdessen auf den Weg zu O-Gee’s. So hatte der Organ Grinder seinen Salon genannt. Rebus gefiel der Name, weil er genauso klang wie das Geräusch, das die Kunden von sich gaben, wenn der Organ Grinder sie bearbeitete: »O Jeez!« Doch alle waren stets bemüht, es nicht laut zu sagen, denn der Organ Grinder hörte nicht gern Flüche auf seiner Massagebank. Das brachte ihn auf, und niemand wollte den Händen eines aufgebrachten Organ Grinder ausgeliefert sein. Niemand wollte sich für ihn zum Affen machen.
So saß er also da, mit der Bibel auf dem Schoß, und wartete auf seinen Termin um halb sieben. Die Bibel war das Einzige, das der Organ Grinder als Lektüre zur Verfügung stellte. Rebus hatte sie sich schon einmal vorgenommen, doch es machte ihm nichts aus, sie noch einmal zu lesen.
Dann flog die Eingangstür auf.
»Wo sind denn die Mädchen, eh?« Dieser neue Kunde war nicht nur falsch informiert, sondern auch ganz schön betrunken. Und der Organ Grinder lehnte es strikt ab, Betrunkene zu behandeln.
»Falscher Laden, Kumpel.« Rebus wollte ihm gerade ein paar Salons in der Nähe nennen, wo er ganz bestimmt unter den Händen sachkundiger Thailänderinnen auf seine Kosten kommen würde, da gebot ihm der Mann mit einem dicken ausgestreckten Finger Einhalt.
»John Rebus, du alter Scheißkerl!«
Rebus runzelte die Stirn und versuchte, das Gesicht irgendwie einzuordnen. Er überflog in Gedanken die Verbrecherfotos von zwei Jahrzehnten. Der Mann bemerkte Rebus’ Ratlosigkeit und breitete die Arme aus. »Deek Torrance, erinnerst du dich nicht an mich?«
Rebus schüttelte den Kopf. Torrance kam entschlossen auf ihn zu. Rebus ballte die Fäuste, auf alles gefasst.
»Wir haben die Fallschirmspringerausbildung zusammen gemacht«, sagte Torrance. »Mein Gott, da musst du dich doch dran erinnern!«
Und plötzlich fiel es Rebus wieder ein. Er erinnerte sich an alles, an die gesamte schwarze Komödie, die seine Vergangenheit darstellte.
Sie tranken zusammen im Broadsword und tauschten Geschichten aus. Deek hatte es nur ein Jahr im Fallschirmregiment ausgehalten und sich nicht viel später ganz vom Militär getrennt.
»Zu rastlos, John, das war mein Problem. Und was war deins?«
Rebus schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Bier. »Mein Problem, Deek? Dafür gibt es keinen Namen.« Doch es hatte einen Namen bekommen, zuerst durch Mickeys plötzliches Wiederauftauchen und nun durch Deek Torrance. Geister. Beide waren sie Geister aus der Vergangenheit, doch Rebus wollte kein Geizhals wie Ebenezer Scrooge von Dickens sein. Er bestellte eine weitere Runde.
»Du hast immer gesagt, du wolltest dich für den SAS bewerben«, sagte Torrance.
Rebus zuckte die Achseln. »Hat nicht geklappt.«
In der Bar wurde es immer voller, und irgendwann wurde Torrance von einem jungen Mann angerempelt, der versuchte, einen Kontrabass durch das Gedränge zu bugsieren.
»Kannst du das Ding nicht draußen lassen?«
»Nicht in der Gegend hier.«
Torrance wandte sich wieder Rebus zu. »Hast du das gesehen?«
Rebus lächelte. Er fühlte sich gut nach der Massage. »Niemand bringt in dieser Gegend irgendwas Kleines mit in eine Bar.« Deek Torrance antwortete nur mit einem Grunzen. Ja, jetzt erinnerte er sich genau an ihn. Er war dicker und kahlköpfiger und sein Gesicht grober und fleischiger geworden. Er hörte sich nicht mal mehr so an wie damals, jedenfalls nicht ganz so. Aber eine Eigenheit gab es noch, das Torrance-Grunzen. Ein Mann von wenigen Worten, das war Deek Torrance gewesen. Jetzt allerdings hatte er eine Menge zu sagen.
»Was machst du denn so, Deek?«
Torrance
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