Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
Elch sehen. Ich hab schon einen Elch gesehen, heute früh, am See. Ich dachte …« Sie redete irgendwas daher, versuchte sich zu erinnern. »Ich hab den Wald abgesucht, die Felsen und entdeckte zwei Menschen.«
»Wie sahen sie aus?«
»Ich … ich konnte sie nicht gut erkennen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen und auf dem Felsen ausgebreitet, bei dem sie gerastet hatte. Um ein bisschen Sonne zu tanken.
Jetzt fror sie. Sie fror bis ins Mark.
»Aber sie hatte lange Haare. Dunkle Haare und eine rote Jacke mit einer passenden Mütze dazu. Sie trug eine Sonnenbrille. Er hatte mir den Rücken zugewandt.«
»Was hatte er an?«
»Hm. Eine dunkle Jacke und eine orangerote Kopfbedeckung. So eine Jägermütze. Er, ich glaube … ja, ich glaube, er trug auch eine Sonnenbrille. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Da, da ist mein Rucksack. Ich hab alles stehen und liegen lassen und wollte nur weg. Da drüben, es war da drüben.« Sie zeigte hinüber, beschleunigte ihre Schritte. »Sie waren da drüben, vor den Bäumen. Jetzt sind sie weg, aber sie waren dort, dort unten. Ich hab sie gesehen. Ich muss mich setzen.«
Als sie sich auf dem Felsen niederließ, nahm er ihr wortlos das Fernglas ab, das noch um ihren Hals hing. Er richtete es nach unten. Er sah nichts, keine Menschenseele.
»Was genau haben Sie gesehen?«
»Sie haben sich gestritten. An der Art, wie sie dastand, konnte ich sehen, dass sie wütend war. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Richtig aggressiv.« Sie musste schlucken, sich konzentrieren, da sie Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Fröstelnd griff sie nach ihrer Jacke und zog sie an, wickelte sich fest darin ein. »Sie hat ihm eine Ohrfeige verpasst, dann hat sie ihn geschubst und ihn noch mal geohrfeigt. Er hat sie geschlagen, sie zu Boden geworfen, aber sie ist wieder aufgestanden und auf ihn losgegangen. Dann hat er erneut zugeschlagen. Ich sah Blut auf ihrem Gesicht. Ogottogott, ogottogott.«
Brody warf nur einen kurzen Blick in Reeces Richtung.
»Werden Sie bitte nicht wieder hysterisch. Erzählen Sie mir, was Sie noch gesehen haben.«
»Er hat sich auf sie gesetzt, sie bei den Haaren gepackt und ihren Kopf gegen den Boden geschlagen, glaub ich. Es sah aus, als würde er sie würgen.«
Reece sah alles wieder genau vor sich und hielt sich die Hand vor den Mund, damit ihr ja nicht schlecht wurde. »Er hat sie erwürgt. Erst schlugen ihre Füße noch gegen den Boden, dann regte sich nichts mehr. Ich bin gerannt. Ich hab geschrien, glaube ich, aber die Wasserfälle sind so laut, so laut …«
»Die Stelle ist ziemlich weit weg von hier, sogar durch das Fernglas. Sind Sie sich Ihrer Sache wirklich ganz sicher?«
Sie sah auf, ihre Augen waren verquollen, sie war erschöpft. »Sind Sie jemals Zeuge eines Mordes gewesen?«
»Nein.«
Sie richtete sich auf und griff nach ihrem Rucksack. »Ich schon. Er hat sie irgendwohin gebracht, hat ihre Leiche versteckt, weggeschleift. Keine Ahnung. Aber er hat sie umgebracht, und er wird damit davonkommen. Wir müssen Hilfe holen.«
»Geben Sie mir Ihren Rucksack.«
»Ich kann meinen Rucksack selbst tragen.«
Er nahm ihn ihr ab und schenkte ihr einen mitleidigen Blick. »Tragen Sie meinen, der ist leichter.« Er setzte ihn ab und hielt ihn ihr hin. »Wir können gern noch weiter hier rumstehen und darüber diskutieren – wobei ich mich letzen Endes ohnehin durchsetzen werde. Aber dann verlieren wir Zeit.«
Sie setzte seinen Rucksack auf. Und natürlich hatte er Recht. Seiner war deutlich leichter. Sie hatte viel zu viel mitgenommen, aber sie hatte einfach auf Nummer Sicher gehen wollen.
»Das Handy! Was bin ich nur für eine dumme Kuh!«
»Kann schon sein«, sagte er, während sie in ihre Tasche griff. »Aber das Handy wird Ihnen hier auch nichts nützen. Kein Empfang.«
Im Laufen versuchte sie es trotzdem. »Vielleicht kommen wir irgendwo durch. Es dauert ewig, bis wir zurück sind. Sie sind bestimmt schneller. Sie sollten vorgehen.«
»Nein.«
»Aber …«
»Wer wurde vor Ihren Augen ermordet?«
»Ich möchte nicht darüber reden. Wie lange dauert es, bis wir zurück sind?«
»So lange, wie wir eben brauchen. Und jetzt fangen Sie bitte nicht mit diesem Sind-wir-schon-da?-Mist an.«
Sie musste beinahe schon lachen. Er war so was von kratzbürstig und brüsk, dass ihre Angst verschwand. Er hatte Recht. Sie würden zurückkommen, wenn sie zurückkamen. Und dann würden sie tun, was getan
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