Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
hatte sie so gut wie geschafft, und selbst wenn sie so gemütlich weiterlief wie bisher, konnte sie ihr Ziel noch vor Mittag erreichen.
Sie durchquerte die Bergwiese und begann den schlammigen Hang zu erklimmen. Als sie es bis zur nächsten Erhebung geschafft hatte, konnte sie einen ersten Blick auf das lange, glitzernde Band des Flusses erhaschen.
Er grub sich unter fortwährendem Geglucker durch den Canyon. Hie und da säumten ihn Felsen und Geröll, so als hätte der Fluss sie ausgespuckt. Trotzdem floss er noch immer friedlich dahin, wand sich fast schon verträumt zwischen den steilen Klippen nach Westen.
Nun machte sie sich die Mühe und kramte ihren Fotoapparat hervor, obwohl sie wusste, dass ein Schnappschuss dieses Panorama niemals einfangen konnte. Ein Bild konnte die Geräusche, die Luft, die atemberaubenden Felsformationen unmöglich wiedergeben.
Dann entdeckte sie ein paar leuchtend blaue Kajaks und richtete erfreut die Kamera darauf, da sie die Größenverhältnisse verdeutlichen würden. Sie sah den Kajakern beim Paddeln zu, drehte sich im Kreis und hörte gedämpfte Stimmen, die zu Schreien wurden.
Irgendjemand bekam vermutlich gerade Unterricht. Sie nahm ihr Fernglas heraus, um sich die Sache näher anzusehen. Ein Mann und ein Junge, ein Jugendlicher, beschloss sie. Auf dem Gesicht des Jungen lag eine unglaubliche Konzentration und Begeisterung. Sie sah ihn grinsen, nicken, seine Lippen bewegten sich, als er seinem Begleiter etwas zurief. War das sein Lehrer?
Sie paddelten weiter, Seite an Seite, und folgten dem Fluss nach Westen.
Auf dem darübergelegenen Wanderweg hängte sich Reece ihr Fernglas um und folgte ihnen.
Die Höhe war Schwindel erregend. Während sich ihr Körper vorwärtsarbeitete, spürte sie, wie ihre Muskeln brannten, genoss das Abenteuer ohne jede Spur von Angst oder Besorgnis. Stattdessen fühlte sie sich seit langem endlich wieder wie ein ganz normaler Mensch. Klein, sterblich und voller Überraschungen. Sie brauchte bloß den Kopf in den Nacken zu legen, und die Welt gehörte ihr. Ihr und diesen Bergen, dachte sie, die blau in der Sonne funkelten.
Obwohl sie den kühlen Wind im Gesicht spürte, war ihr Rücken völlig verschwitzt vor lauter Anstrengung. Bei der nächsten Rast wollte sie ihre Jacke ausziehen und ordentlich was trinken.
Sie schleppte sich keuchend immer höher.
Und erstarrte schwankend, als sie Brody auf einem breiten Felsvorsprung entdeckte.
Er würdigte sie kaum eines Blickes. »Ach Sie sind das! Das hätte ich mir ja denken können. Sie machen genügend Lärm, um eine Lawine auszulösen.« Als sie ängstlich hochblickte, schüttelte er den Kopf. »Na gut. So schlimm ist es auch wieder nicht. Andererseits halten Sie auf diese Weise zumindest die Jäger fern. Die vierbeinigen, meine ich natürlich.«
Dass man hier Bären begegnen konnte, daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Aber noch weniger hatte sie erwartet, hier auf andere Menschen zu treffen.
»Was machen Sie denn hier oben?«
»Mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« Er nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Und Sie? Außer hier langzutrampeln und Wanderlieder zu singen?«
»Ich hab nicht gesungen.« Oh Gott, hoffentlich nicht.
»Gut, Sie haben die Lieder nicht gesungen. Sie haben sie eher gekeucht.«
»Ich wandere. Ich habe meinen freien Tag.«
»Juhu!« Er griff nach dem Notebook, das er auf seinem Schoß balancierte. Weil sie sich so erschreckt hatte, brauchte sie ein, zwei Minuten, um wieder zu Atem zu kommen, bevor sie weiterkletterte. Aber das konnte sie mit etwas Konversation überspielen. »Schreiben Sie? Hier oben?«
»Ich recherchiere. Ich habe vor, hier jemanden umzubringen. Literarisch natürlich«, fügte er genüsslich hinzu, während die Röte, die ihr die Anstrengung in die Wangen getrieben hatte, langsam wieder verblasste. »Der Platz hier ist hervorragend dafür geeignet, vor allem zu dieser Jahreszeit. So früh wandert hier niemand – oder zumindest kaum jemand. Er lauert ihr auf und schubst sie runter.«
Brody beugte sich ein wenig vor und sah nach unten. Sie bemerkte neidisch, dass er seine Jacke bereits ausgezogen hatte. »Ein langer, böser Sturz. Ein schrecklicher Unfall, eine furchtbare Tragödie.«
Trotz allem wurde sie neugierig. »Warum hat er sie umgebracht?«
Er zuckte nur seine breiten Schultern, über denen sich ein Jeanshemd spannte. »In erster Linie deshalb, weil er Gelegenheit dazu hatte.«
»Ich hab Kajaker auf dem Fluss
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