Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
lassen. Sie hatte kein Recht, den beiden nachzuspionieren. Aber sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, die private Auseinandersetzung weiter zu beobachten, und richtete erneut das Fernglas auf die beiden.
Die Frau stieß den Mann mit beiden Händen vor die Brust und ohrfeigte ihn dann aufs Neue. Reece ließ das Fernglas sinken, da sie die hässliche Szene nicht mitansehen wollte.
Aber ihre Hand erstarrte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie sah, wie der Mann ausholte. Sie konnte nicht genau erkennen, ob er ihr einen Boxhieb oder eine Ohrfeige verpasste, aber die Frau stürzte.
»Nein, nein, nicht«, murmelte sie. »Hört auf. Ihr müsst sofort damit aufhören. Hört endlich auf damit!«
Stattdessen rappelte sich die Frau wieder hoch und ging auf ihn los. Doch bevor sie ihren Schlag landen konnte, wurde sie erneut zurückgestoßen, rutschte auf dem schlammigen Grund aus und landete unsanft auf dem Boden.
Der Mann ging zu ihr, beugte sich über sie, während Reeces Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte. Er streckte die Hand aus, wie um ihr aufzuhelfen, und die Frau stützte sich auf einen Ellbogen. Sie blutete am Mund, vielleicht auch aus der Nase, aber ihre Lippen bewegten sich schnell. Vermutlich schrie sie ihn an, dachte Reece. Hör auf, ihn anzuschreien, du machst es nur noch schlimmer.
Und es wurde schlimmer, sehr viel schlimmer, denn er setzte sich rittlings auf die Frau, riss den Kopf an ihren Haaren hoch und donnerte ihn gegen den Boden. Ohne zu merken, dass sie aufgesprungen war und sich die Kehle aus dem Hals schrie, starrte Reece in ihr Fernglas, während sich die Hände des Mannes um den Hals der Frau schlossen.
Stiefel schlugen gegen den Boden, der Körper zuckte und bog sich durch. Und als er schließlich erschlaffte, hörte man nichts außer dem Rauschen des Flusses und dem lauten Schluchzen, das sich Reeces Brust entrang.
Sie drehte sich um, stolperte, rutschte aus und fiel schmerzhaft auf die Knie. Dann rappelte sie sich wieder auf und rannte los.
Sie nahm ihre Umgebung nur noch unscharf wahr, als sie wie eine Wahnsinnige bergab rannte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ein winziger, vor lauter Entsetzen zusammengekrampfter Ball, während sie den gewundenen Weg herabstolperte und rutschte. Das Gesicht der Frau in der roten Jacke wich einem anderen Gesicht, aus dem babyblaue Augen starrten.
Ginny. Aber das war nicht Ginny. Das war nicht Boston. Das war kein Traum. Trotzdem vermischte sich das alles in ihrem Kopf, während sie erneut die Schreie, das Gelächter, die Schüsse vernahm. Bis ihr Brustkorb wummerte und sich alles um sie herum zu drehen begann.
Sie rannte regelrecht in Brody hinein und wehrte sich heftig, als er sie packte.
»Hören Sie auf. Sind Sie denn völlig übergeschnappt? Wollen Sie sich umbringen?«, sagte er mit schneidender Stimme, während er sie gegen den Felsen drückte und auffing, als ihre Knie nachgaben. »Beruhigen Sie sich, Hysterie hilft hier auch nicht weiter. Was war denn los? Ein Bär?«
»Er hat sie umgebracht, er hat sie umgebracht. Ich hab’s gesehen, ich hab’s gesehen.« Weil er zufällig gerade da war, schmiegte sie sich an ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Ich hab’s gesehen. Es war nicht Donna. Es war kein Traum. Er hat sie umgebracht, auf der anderen Seite des Flusses.«
»Ruhig weiteratmen.« Er löste sich von ihr, packte sie an den Schultern und suchte ihren Blick. »Atmen, hab ich gesagt! So, jetzt noch mal. Noch mal.«
»Okay, okay. In Ordnung.« Sie sog die Luft ein, atmete sie aus. »Bitte helfen Sie mir, bitte. Sie waren auf der anderen Seite vom Fluss, und ich hab sie gesehen, mit dem Ding hier.« Sie hob das Fernglas, wobei ihre Hand einfach nicht aufhören wollte zu zittern. »Er hat sie umgebracht, und ich hab’s gesehen.«
»Zeigen Sie mir wo.«
Sie schloss die Augen. Diesmal wäre sie nicht allein, dachte sie. Es war jemand bei ihr, jemand, der helfen konnte. »Weiter oben. Ich weiß nicht, wie weit ich zurückgerannt bin, aber es ist weiter oben auf dem Weg.«
Sie wollte nicht zurück, wollte das Ganze nicht noch mal mitansehen müssen, aber er hatte sie am Arm gepackt und zog sie mit sich.
»Ich hab eine Rast gemacht, um etwas zu essen«, sagte sie schon etwas ruhiger. »Um das Wasser und die kleinen Wasserfälle zu beobachten. Ich hab einen Habicht gesehen.«
»Ja, ich auch.«
»Er war wunderschön. Ich hab mein Fernglas rausgeholt. Ich dachte, ich könnte vielleicht einen Bären oder einen
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