Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
so werden, wenn auch nie mehr genauso wie früher. Er konnte sich vorstellen zuzusehen, wie sie sich wieder berappelte, und das Ergebnis genauer unter die Lupe zu nehmen.
Deshalb fuhr er weiter, während sie schlief, weiter durch die gelben Gräser und das verblichene Grün des allgegenwärtigen Wüstenbeifußes. Er sah, wie sich die Tetons aus der Ebene erhoben. Sie hatten so gar nichts Sanftes, besaßen keine lieblichen Hänge, die von ihrer atemberaubenden Naturgewalt hätten ablenken können. Um die Gipfel wirbelte immer noch Schnee, und die weißen Felsgrate, die sich gegen das Blau und Grau des Himmels abhoben, ließen sie nur noch eindrucksvoller wirken.
Er erinnerte sich genau, was er bei ihrem ersten Anblick empfunden hatte, und wie er, der nicht sonderlich spirituell veranlagt war, sofort von ihrem spröden, unerbittlichen Zauber fasziniert worden war. Die Rockys mochten größer sein und die Berge im Osten eleganter. Aber diese Berge hier, die seinen jetzigen Lebensmittelpunkt einkesselten, hatten etwas Urtümliches.
Vielleicht war er hergekommen, weil er hier nicht ständig die Ellbogen ausfahren musste, um etwas Platz für sich zu behaupten. Doch auch diese Berge hatten erheblich dazu beigetragen.
Er brauste flott über die einsame Straße, die durch Salbeiwiesen führte, auf denen eine kleine Herde Bisons graste. Die Tiere trotteten langsam dahin, mit zottigem Fell und gesenktem Kopf. Er konnte sogar ein paar neugeborene Kälber ausmachen, die ihren Müttern nicht von der Seite wichen.
Obwohl Reece bestimmt entzückt gewesen wäre, ließ er sie schlafen.
Er wusste, dass sich die Wiesen unter der Sommersonne bald in ein riesiges Blumenmeer verwandeln würden. Und auch, dass ein Grab in dieser unendlichen Weite sowohl von Mensch als auch Tier unentdeckt bleiben konnte. Vorausgesetzt, der Mann hatte die Geduld aufgebracht, wirklich tief zu graben.
Er schlängelte sich in Richtung Angel’s Fist und näherte sich den Weiden und Kiefern, die den Ort umgaben. Reece stöhnte leise im Schlaf. Als Brody zu ihr hinübersah, merkte er, dass sie am ganzen Körper zitterte. Er hielt mitten auf der Straße an und rüttelte an ihrem Arm. »Wachen Sie auf.«
»Nein!« Sie fuhr hoch, wie ein Sprinter, der den Startblock verlässt. Als ihre Faust auf ihn zuraste, fing er sie mit der Handfläche ab.
»Schlag mich«, sagte er sanft, »und ich schlage zurück.«
»Was? Was ist los?« Sie starrte verschlafen auf ihre Faust in seiner Hand. »Ich bin eingeschlafen. Bin ich eingeschlafen?«
»Wenn nicht, haben Sie in der letzten Stunde ziemlich gut geschauspielert.«
»Hab ich Sie geschlagen?«
»Sie haben’s versucht. Aber ich warne Sie: Noch ein Versuch, und meine Geduld ist am Ende.«
»Das war bloß ein Test.« Sie versuchte, ihr klopfendes Herz zu beruhigen. »Bekomme ich bitte meine Hand zurück?«
Er öffnete die Finger, sodass sie ihre Faust zurückziehen und in ihren Schoß sinken lassen konnte. »Wachen Sie immer so auf, als hätten Sie gerade den Gong zur zweiten Runde gehört?«
»Keine Ahnung. Es ist schon eine Weile her, seit ich neben jemand anders geschlafen habe. Ich muss Ihre Gegenwart also als angenehm empfinden.«
»Tröstlich. Angenehm.« Die Augenbraue wanderte wieder nach oben. »Wenn Sie weiterhin dieses Vokabular verwenden, fühle ich mich verpflichtet, Sie eines Besseren zu belehren.«
Sie lächelte schwach. »Sie sind kein Typ, der Frauen wehtut.«
»Ach ja?«
»Ich meine körperlich. Sie haben bestimmt schon das ein oder andere Herz gebrochen, aber deshalb brauchen Sie seine Eigentümerin nicht vorher zusammenzuschlagen. Sie killen ihr Ego eher mit Worten – etwas, das, wenn ich darüber nachdenke, mindestens ebenso schlimm ist wie ein Kinnhaken. Wie dem auch sei, danke, dass Sie mich haben schlafen lassen. Ich muss … Oh! Oh, sehen Sie doch nur!«
Sie hatte sich abgewandt, und der Blick durch die Windschutzscheibe ließ sie alles andere vergessen. Überwältigt löste sie den Sicherheitsgurt und öffnete die Wagentür. Sie spürte den Wind, als sie aus dem Wagen stieg.
»Alles hier ist so ursprünglich , so überwältigend und beängstigend. Diese Weite und dann wieder diese … diese Bergfestung, die alles andere dominiert. So, als habe sie sich gerade erst aus der Erde geschoben. Ich mag ihre Wucht.«
Sie ging zur Motorhaube und lehnte sich dagegen. »Ich habe die Berge jeden Tag vor mir, wenn ich aus dem Fenster sehe oder auf meinem Weg zur Arbeit. Aber das ist nicht
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