Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
dasselbe wie hier, ohne die Gebäude, ohne die Leute.«
»Ich bin schließlich auch noch da.«
»Sie wissen schon, was ich meine. Wenn man ihnen hier draußen allein gegenübersteht, kommt man sich plötzlich winzig klein vor.«
Sie sah zu ihm hinüber, registrierte erfreut, dass er kam, um ihr Gesellschaft zu leisten. »Ich dachte, ich bin nur auf der Durchreise, jobbe ein wenig und fahr dann weiter. Und jeden Morgen blicke ich wieder aus meinem Fenster auf den See. Und wenn ich sehe, wie sie sich darin spiegeln, fällt mir kein Grund ein, warum ich weiterfahren sollte.«
»Irgendwann muss man mal ankommen.«
»Das hatte ich eigentlich nicht vor. Na ja, im Grunde hatte ich gar keine Vorstellung, keine richtige. Aber irgendwie hatte ich mich schon darauf eingestellt, eines Tages wieder an die Ostküste zurückzufahren. Wenn auch wahrscheinlich nicht nach Boston. Vielleicht nach Vermont. Dort bin ich zur Schule gegangen, die Gegend ist mir vertraut. Ich hätte gedacht, dass ich das Grün vermissen würde. Das Grün von der Ostküste.«
»Die Weiden hier werden auch grün, und die Wiesen blühen, das Sumpfland. Das ist ein überwältigender Anblick.«
»Das kann ich mir vorstellen, aber der Anblick ist auch jetzt schon überwältigend. Besser als ein Glas Wein.« Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief durch.
»Wenn Sie kochen, sehen Sie manchmal auch so aus.«
Sie öffnete erneut die Augen, ein tiefes spanisches Braun. »Ach ja? Wie denn?«
»So entspannt und ruhig. Glücklich.«
»Nun, in der Küche kenne ich mich aus, und wenn ich mich auskenne, bin ich entspannt und glücklich. Ich hab das vermisst. Nach allem, was passiert ist, konnte ich lange keine Küche mehr betreten. Der Vorfall hat es mir verleidet. Oder besser gesagt, ich habe zugelassen, dass es mir der Vorfall verleidet hat. Wie dem auch sei, ich werde wieder zurückkommen. Den Vögeln zuhören. Keine Ahnung, was das für welche sind.«
Er hatte den Vogelgesang gar nicht bemerkt, bis sie ihn erwähnt hatte. Jetzt drehte sie sich um und riss die Augen auf. Sie packte ihn am Arm und deutete in die Ferne. »Sehen Sie nur, wow!« Er tat wie geheißen, und entdeckte die kleine Bisonherde, die in der Ebene graste. »Sind das Ihre ersten Bisons?«
»Mit den Bisons ist es genau wie mit dem Bären: Gesehen hab ich schon mal welche, aber ich bin ihnen noch nie so nahegekommen. Das ist wesentlich aufregender. Oh, sehen Sie nur! Sie haben Junge!«
Ihre Stimme war ganz weich geworden. »Warum müssen Frauen bloß immer so einen Ton anschlagen, wenn sie von Jungen oder Babys reden?«
Sie gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Die sind so was von süß! Und dann werden sie dermaßen riesig!«
»Und dann legen Sie sie auf den Grill.«
»Bitte, ich genieße hier ein einzigartiges Naturschauspiel. Im Moment säße ich lieber auf einem Pferd statt in einem Geländewagen. Ich möchte eine Antilope sehen. Aber dazu müsste ich natürlich erst einmal reiten können.«
»Sie wollen auf einer Antilope reiten?«
»Nein.« Sie lachte, leise und entspannt. »Die ist mir gerade bloß eingefallen. Ich würde gern mal eine Antilope vom Pferderücken aus sehen. Aber ich kann leider nicht reiten.«
»Wollte Ihnen Lo das nicht beibringen?«
Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ die Bisonherde nicht aus den Augen. »Ich fürchte, ich sollte auf etwas anderem reiten. Aber ich werd ihn an sein Angebot erinnern – an die Reitstunden zu Pferd -, sobald ich den Eindruck habe, dass er sich benehmen kann.«
»Sie mögen Männer, die sich gut benehmen?«
»Nicht unbedingt«, sagte sie geistesabwesend. »Aber in diesem Fall schon.«
Sie kapierte es erst, als er sich umgedreht und neben ihr beide Hände auf die Motorhaube gestützt hatte, sodass sie sich kaum noch rühren konnte.
»Brody.«
»Du bist weder blöd noch schwer von Begriff. Und wenn du überspannt bist, sieht das anders aus. Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, du hättest nicht gewusst, dass das passieren muss?«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus – vielleicht auch aus Angst, aber nicht nur. »An so etwas habe ich schon lange keine Gedanken mehr verschwendet. Das muss mir vollkommen entgangen sein. Größtenteils zumindest«, verbesserte sie sich.
»Wenn du nicht willst, dann sag’s mir jetzt bitte.«
»Natürlich will ich, es ist bloß alles so – wow!«
Das letzte Wort entfuhr ihr, als er sie sanft an den Armen zog, bis sie sich auf die
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