Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
der Bär einen langen Blick zu, drehte sich um und verschwand.
»Die meisten sind eher scheu«, bemerkte Brody.
»Die meisten, Na toll. Ich glaub, ich muss mich mal kurz setzen.«
»Immer in Bewegung bleiben. Ist das Ihr erster Bär?«
»Aus dieser Nähe, ja. Ich hatte schon ganz vergessen, dass es hier welche gibt.«
Sie strich mit der Hand über den Ausschnitt, wie um sich zu versichern, dass ihr das Herz noch nicht aus dem Brustkorb gehüpft war. »Und dass man vor Bären auf der Hut sein sollte, wie es so schön in meinem Wanderführer steht. Ich bin etwas außer Atem«, sagte sie und klopfte sich gegen die Brust. »Aber er sah wunderschön aus, wenn auch äußerst Furcht einflö ßend.«
»Apropos: Würde hier in der Nähe eine Leiche liegen, die er wittern könnte, wäre er aggressiver gewesen. Was bedeutet, dass sie nicht hier ist oder aber tief genug vergraben wurde.«
Jetzt musste sie hart schlucken. »Noch so eine reizende Vorstellung. Ich würde jetzt wirklich gern diesen Wein trinken. Ein richtig großes Glas Wein.«
Sie fühlte sich deutlich sicherer, als sie wieder im Wagen saßen. Sicherer und lächerlich erschöpft. Sie sehnte sich nach Wein, aber mindestens ebenso nach etwas Schlaf. Nach einem abgedunkelten, ruhigen Zimmer, einer weichen Decke, nach abgeschlossenen Türen. Danach, alles zu vergessen.
Als er den Motor anließ, schloss sie kurz ihre müden Augen. Und schlief vor lauter Erschöpfung ein.
Sie schläft ganz ruhig, dachte Brody, ohne ein Geräusch, ohne eine Bewegung. Ihr Kopf war an die Scheibe gelehnt, ihre Hände lagen reglos in ihrem Schoß.
Was um alles in der Welt sollte er jetzt mit ihr anfangen? Da er noch unschlüssig war, fuhr er bewusst langsam und machte instinktiv ein paar Umwege, um die Rückfahrt in die Länge zu ziehen.
Er hielt sie für psychisch stabiler, als sie behauptet hatte. Nur wenige hätten sich noch einmal in diese Situation begeben. Die meisten hätten die Angelegenheit für erledigt erklärt, nachdem sie ihre Aussage bei der Polizei gemacht hatten.
Aber das kam für sie nicht infrage.
Vielleicht, weil sie schon so viel durchgemacht hatte. Aber vielleicht war das auch einfach nicht ihre Art.
Sie hatte sich selbst in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Und betrachtete das auch noch als so etwas wie eine persönliche Niederlage.
Er dagegen fand es mutig.
Wahrscheinlich betrachtete sie ihr Herumgondeln nach der Zeit in Boston als eine Art Flucht. Für ihn war das eher eine Reise. Genauso hatte sein Leben ausgesehen, nachdem er aus Chicago weg war. Das Wort Flucht bedeutete Angst und Entkommenwollen. Aber das Wort Reise? Das war eher so etwas wie eine Übergangsphase. Er hatte diese Übergangsphase gebraucht, um herauszufinden, was er wirklich wollte, um zu lernen, nach seinen eigenen Maßstäben zu leben, nach seinem eigenen Rhythmus.
So gesehen tat Reece Gilmore auch nichts anders. Nur, dass sie mit wesentlich schwererem Gepäck reiste.
Er hatte noch nie Angst um sein Leben haben müssen, aber er konnte sich vorstellen, wie sich so etwas anfühlte. Trotzdem blieb es bei einer bloßen Vorstellung. So wie er sich die Panik, die Schmerzen und die geistige Verwirrtheit im Krankenhausbett auch bloß vorstellen konnte. Die Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit. Das war eine Last, die deutlich zu groß war für einen Einzelnen.
Und sie hatte ihn in ihren Bann gezogen, was nicht vielen gelang. Er war nicht der Typ, der den gebrochenen Flügel eines aus dem Nest gefallenen Vogels schient. Die Natur folgte ihren eigenen Gesetzen, und je weniger man sich einmischte, desto besser.
Aber sie hatte es geschafft, und zwar nicht nur, weil er beinahe mit ihr Zeuge eines Mordes geworden wäre. Obwohl das auch schon gereicht hätte.
Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Nicht wegen ihrer Schwäche, sondern wegen ihrer Willensstärke, mit der sie gegen ihre Probleme ankämpfte. Davor hatte er Respekt. Genauso, wie er die leise Anziehungskraft zwischen ihnen respektieren musste.
Eigentlich war sie gar nicht sein Typ. Das erst noch heilende Rückgrat unter der zerbrechlichen Hülle. Das machte sie hilfsbedürftig, und er hatte überhaupt keine Geduld mit hilfsbedürftigen Frauen. Normalerweise.
Er mochte intelligente, stabile Frauen, die fest in ihrem eigenen Leben verwurzelt waren. Damit sie sich nicht zu sehr in sein eigenes einmischten.
Wahrscheinlich war sie auch so gewesen, bevor sie verletzt worden war. Vielleicht würde sie wieder
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