Verschlungene Wege: Roman (German Edition)
das für wenig wahrscheinlich. Sie haben sich dort verabredet oder sind gemeinsam dorthin gegangen, weil es etwas zu besprechen gab. Oder weil es Streit gab.«
Brody gefiel ihre Art zu argumentieren. Sie argumentierte nicht unbedingt gradlinig, sondern eher so, wie sie kochte, wo sie auch mit mehreren Töpfen gleichzeitig hantierte. »Das sind alles nur Vermutungen und keine Tatsachen.«
»Gut, dann stelle ich eben Vermutungen an. Und ich vermute, das waren keine Franzosen.«
»Vielleicht waren es Italiener. Auch Litauer sind kein Ding der Unmöglichkeit.«
»Prima, ein litauisches Paar verläuft sich, weil die Männer dieser Welt ihren Penis für eine Art Kompass halten. Und deshalb kann er auch unmöglich nach dem Weg fragen, weil das seinen Penis entwerten würde.«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Das ist ein streng gehütetes männliches Geheimnis. Wie sind Sie bloß darauf gekommen?«
»Darüber wissen wir Frauen mehr, als ihr zu träumen wagt. Wie dem auch sei, sie haben ihren Wagen stehen gelassen, haben sich durch die Bäume geschlagen, bis sie zum Fluss kamen, denn nur so bekommt man heraus, wo man sich genau befindet. Sie streiten, werden handgreiflich, er bringt sie um. Und da es sich um einen litauischen Bergführer handelt, verwischt er profimäßig alle Spuren und schleift ihre Leiche zurück zum Mietwagen, damit er sie in geweihter Heimaterde begraben kann.«
»Das ist gut, das sollten Sie aufschreiben.«
»Wenn das die Sorte Unsinn ist, die Sie so schreiben, wundert mich, dass Sie überhaupt einen Verleger gefunden haben.«
»Ich wäre bei den Franzosen geblieben, ganz einfach wegen der besseren Chancen auf dem internationalen Buchmarkt. Trotzdem: Sie können alles Mögliche sein, von überall her stammen.«
Es war hilfreich, das Ganze wie ein Rätsel anzugehen. Das brachte irgendwie mehr Distanz. »Wenn er es geschafft hat, seine Spuren zu verwischen, dann muss er sich in der Natur auskennen.«
»Das tun viele. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie schon mal hier waren.«
Brody sah sich um. Er kannte diese Landschaft, weil er oft in ähnlichen Gebieten gewandert war und sie in seinen Romanen vorkamen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis hier überall Kornblumen und Küchenschellen aus dem Boden sprießen würden. Das Geißblatt würde blühen, bevor es alles überwucherte, was ihm in die Quere kam. Ein schattiges Fleckchen Erde. Ein schönes Fleckchen Erde.
Aber im Juni würde es hier noch schöner sein.
»Es ist noch ein bisschen zu früh für Touristen«, überlegte er. »Aber es gibt trotzdem Leute, die zu dieser Jahreszeit herkommen, weil sie den Andrang im Sommer und Winter vermeiden wollen. Oder aber sie waren wirklich nur auf der Durchreise und haben hier bloß eine kurze Wanderung gemacht. Vielleicht haben Sie sie sogar höchstpersönlich in Angel’s Fist gesehen, wo sie Ihre Küche getestet haben.«
»Was für eine reizende Vorstellung, vielen Dank auch.«
»Sie haben gesehen, was er anhatte. Würden Sie seine Kleidung wieder erkennen?«
»Eine orangerote Jagdmütze, eine schwarze Allwetterjacke. Aber eine lange, glaube ich. Eine, wie man sie hier jeden Tag sieht. Ich hab einfach nicht genug auf ihn geachtet. Ich könnte ihm höchstpersönlich meine Tagessuppe servieren und würde es nicht mal merken. Keine Ahnung, wie ich jemals … Oh, Gott.«
Er sah ihn auch. Er hatte den Bären sogar etwa zehn Sekunden vor ihr entdeckt. »Er interessiert sich nicht für Sie.«
»Woher wollen Sie das wissen? Weil Sie ein ausgewiesener Bärenpsychologe sind?« Der Bär wirkte so unwirklich, dass sie kaum Angst vor ihm hatte. »Meine Güte, ist der groß.«
»Ich hab schon größere gesehen.«
»Wie schön für Sie. Hm, wir dürfen jetzt auf keinen Fall davonlaufen.«
»Nein. Das würde ihn bloß belustigen, bis er uns eingeholt hätte. Reden Sie weiter, bewegen Sie sich, wir machen einfach einen kleinen Umweg. Gut, jetzt sieht er uns.«
Aha, dachte sie, und bekam es wirklich mit der Angst zu tun. Hallo Bär. »Und das hilft?«
Sie erinnerte sich an diese Illustration in ihrem Wanderführer, die zeigte, wie man sich bei einem Bärenangriff tot stellen soll. Das Ganze hatte ausgesehen wie die Kleinkindstellung beim Yoga.
Die würde sie problemlos hinkriegen. Sie würde es mühelos schaffen, zu Boden gehen, denn wenn das Tier angriff, würden ihre Beine so oder so nachgeben.
Doch bevor sie die Empfehlungen ihres Wanderführers auf eine harte Probe stellen konnte, warf ihnen
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